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Pluralität und Fluidität
(2015)
Nicht nur Bücher, sondern auch Texte haben ihre Geschichte. Das gilt, wie man weiß, vor allem für die Vormoderne, wo Texte noch nicht – wie in der anbrechenden Moderne – durch den Buchdruck fixiert und beliebig multiplizierbar waren. Und es gilt, um das Thema noch stärker einzugrenzen, vor allem für handschriftlich überlieferte Texte, die sich in den meisten Fällen, das liegt in der Natur der Sache, durch mehr oder weniger große Divergenz oder Varianz auszeichnen. Man spricht dann metaphorisch, um das Flüssige des Vorgangs zu verdeutlichen, von „Überlieferung“, die man, wie das Rudolf Schieffer in
einer Arbeit über die „lauteren Quellen des geschichtlichen Lebens“ 1995 getan hat, mit einem „Gewässer“ vergleichen kann, das über zahlreiche „Seitenarme“ und „Staustufen“ verfügt, also nicht nur von der „Quelle“ her zu verfolgen ist. Von daher erklärt sich auch der Titel, den ich für diese Untersuchung gewählt habe: „Pluralität und Fluidität.“ Er soll das Lebendige, Bewegliche und Fluktuierende mittelalterlicher Textualität zum Ausdruck bringen. Die gewählten Begriffe stammen von dem Mediävisten Gerrit Jasper Schenk, der diese auf einer Tagung des Konstanzer Arbeitskreises im Herbst 2011 auf den Konzilschronisten Ulrich Richental und dessen historiografisches Werk angewandt hat.
Das badische Generallandesarchiv in Karlsruhe verwahrt neun spätmittelalterliche Papierhandschriften aus der Abtei Reichenau. [1] Sie verzeichnen auf insgesamt über
5000 Seiten tausende Verleihungen von Reichenauer Gütern zu Lehen und verwandte
Geschäfte aus der Zeit von etwa 1330 bis 1519. Diese neun Reichenauer Lehenbücher bilden das größte zusammenhängende Quellenkorpus der Abtei Reichenau. Sie sind schon
mehrfach zur Erforschung der spätmittelalterlichen Reichenau herangezogen worden,
aber aufgrund der Masse der darin niedergeschriebenen Angaben nicht einmal ansatzweise systematisch ausgeschöpft. Darum lassen sich aus ihnen noch überraschende Erkenntnisse gewinnen, mitunter auch solche, die über die engere Besitz- und Herrschaftsgeschichte der Abtei Reichenau hinausweisen, wie das folgende kleine Beispiel aus der
Zeit des Abtes Eberhard von Brandis (1342–1379) beweist: [2]