Am 10. April 1943 übersandte der Psychiater Gustav Ehrismann dem Oberstaatsanwalt beim Landgericht Mannheim, der eine Anklage gegen den Sinto Friedrich Spindler vor dem Sondergericht Mannheim vertrat, ein amtsärztliches Gutachten. Dieses wurde dem Urteil des Sondergerichtes zu Grunde gelegt und sollte noch weitere Folgen haben. Es stellt die einzige Verbindung
zwischen Spindler und Ehrismann dar und dient als Scharnier, um die Biografien der beiden zu rekonstruieren. Exemplarisch werden damit Einblicke in Lebensverhältnisse, Verstrickungen und gesellschaftliche Bedingungen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem möglich.
Bei Recherchen zu meinem Buch über das Leben einer Sintiza im Zusammenhang mit der Geschichte der Sinti stieß ich im Bundesarchiv auf ein Foto von Karl Müller, dem bedeutenden Freiburger Fotografen (1901-1980). Im Zentrum steht rechts ein freundlich, fast verlegen lächelnder deutscher Soldat, der möglicherweise gerade etwas zu seinem Gegenüber auf der
linken Seite sagt. Die Frau, mit der er spricht, hält ihm ihre Hand mit einer auffordernden Geste hin. Ein Armband schmückt ihren rechten Arm. Ihre Haare sind von einem Kopftuch verdeckt, unter dem noch eine Haarlocke hervorschaut. Sie trägt ein großes, reich verziertes Schultertuch. Hinter ihr steht eine Frau mit einem gleichartigen Kopftuch. Ihr Gesicht sieht man nicht, nur einen Ohrring und ein Hals- oder Schultertuch. Rechts im Bild schaut ein Kamerad mit Brille amüsiert zu. Etwas distanziert beobachten zwei junge Frauen die Szene. Sie wirken erwartungsvoll, wie der Soldat reagieren wird. Beide sind in einer Tracht gekleidet, die sich völlig von derjenigen der Frauen am linken Bildrand unterscheidet. Im Hintergrund steht ein Bub an einer Absperrung, auf die sich links dahinter ein großer Mann stützt. Die Absperrung zieht sich rings um einen Platz herum, Verzierungen hängen von oben herunter. Handelt es sich um einen Rummelplatz? Weiter hinten sind noch Häuser zu erblicken, teilweise mit einer Beschriftung angeschrieben, die aber nicht zu entziffern ist.
Überall entstehen
auch „Geschichtswerkstätten" oder Arbeitskreise zur Regionalgeschichte,
die beanspruchen, neue Wege der Geschichtsforschung zu begehen. [...]
Die Historikerzunft hat auf diese neue Bewegung wenig begeistert reagiert.
Dabei geht es nicht nur um Bedenken, weil viele „Laien" nun Geschichtsforschung
betreiben (,,können die das überhaupt?"), auch nicht nur darum, daß
erstaunlich viele erwerbslose Lehrer und Privatdozenten unter den Aktiven
sind, sondern darüber hinaus um grundsätzliche Probleme.
Zum Sommersemester 1910 schrieb sich ein junger russischer Student, Michael v. Dmitrewski (Michail Simeonowitsch Dmitrewski), an der Universität Freiburg i. Br. ein. Er stammte aus einer alten russischen Adelsfamilie, seine Vorfahren hatten hohe Ämter am Zarenhof oder in der Staatsverwaltung ausgeübt. Wasili Dmitrewski war Gouverneur von Stawropol während der blutigen Kaukasuskriege gewesen. Sein Sohn, Michail Wasiljewitsch Dmitrewski, wurde als Freund des Dichters Michail Ju. Lermontow (1814-1841) bekannt. Er lernte ihn 1837 in Tiflis kennen, wo er in der Zivilkanzlei des Oberkommandierenden für den Kaukasus diente. 1841 traf er ihn in Pjatigorsk wieder und gehörte dort zum engsten Kreis um den Dichter, trug ihm auch eigene Gedichte vor, die dieser sehr geschätzt haben soll. Im selben Jahr begleitete er ihn zu seinem für ihn tödlichen Duell. Darüber hinaus war er mit einem Kreis verbannter Teilnehmer des Dekabristen-Aufstandes von 1825 - namentlich mit Alexander A. Bestuschew (1797-1837) - eng befreundet. Der Vater des neuen Freiburger Studenten, Simeon Michailowitsch, hatte die diplomatische Laufbahn eingeschlagen und erhielt den Titel eines Kammerjunkers und Hofrates.
Der 15. Juli 1942 war ein Mittwoch. Reinhold Birmele, achtundzwanzigjähriger Gehilfe in der Gärtnerei Rappenecker, bearbeitete ein Grundstück in der Freiburger Beethovenstraße. Wegen epileptischer Anfälle in der Vergangenheit hatte er nicht als Soldat in den Krieg ziehen müssen. Nebenan, Nr. 9, lag der Garten, der zur Villa des ehemaligen Bankdirektors Hein gehörte. Birmele hatte schon oft dort gearbeitet. Nur flüchtig war er hingegen bisher der achtundfünfzigjährigen Hausgehilfin der Familie Hein, Maria Weber [Name geändert, H. H.], begegnet, die gerade in den Garten trat; er wußte nicht einmal ihren Namen. Sie kamen ins Gespräch. Dabei stellte sich heraus, daß Frau Weber in St. Peter beheimatet war und Reinhold Birmele ihre dort verheiratete Schwester kannte. Sie habe jetzt Ferien und wolle ihre Schwester wieder einmal besuchen, meinte Birmele die Hausgehilfin zu verstehen. Ihm kam die Idee, sie zu fragen, ob sie nicht gemeinsam dorthin wandern wollten. Er war ein großer Naturfreund und jeden Sonntag draußen in den Bergen. Birmele wollte dann, nach dem Besuch der Bekannten in St. Peter, über den Kandel zurück nach Kollnau laufen, wo er wohnte. Eine richtige Verabredung war es wohl nicht, aber Birmele dachte, Maria Weber habe seinem Plan zugestimmt.
Am 15. April 1937 verhafteten Beamte der Zollfahndung den Geschäftsleiter der Bezirkssparkasse Elzach, Erwin Stengler. Wer davon erfuhr, konnte es nicht fassen: Stengler war ein angesehener Bürger der Stadt. Bald munkelte man hinter vorgehaltener Hand, dass es sich um ,,krumme Geschäfte", um Devisenvergehen handeln solle, ja, obwohl Parteimitglied, habe der
Sparkassenleiter einem Juden geholfen. Stengler galt als korrekter, anständiger Geschäftsmann, er hatte sich um die Sparkasse verdient gemacht. Dass er gegen Gesetze verstoßen, vielleicht sogar die Bank geschädigt haben sollte, war unvorstellbar.
Rund zwanzig Jahre ist es nun her, seitdem die „Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau"
veröffentlicht wurde. Das ist ein guter Zeitpunkt, um zu überprüfen, ob sich die
Konzeption bewährt hat. ,,Mit dem Ziel einer Gesellschaftsgeschichte der Stadt sollte im Mittelpunkt die Lebenswelt der Menschen stehen, die Darstellung der Verhältnisse, Vorgänge, Erfahrungen und Verhaltensweisen in ihren wechselseitigen Zusammenhängen." Immer wieder
wurden exemplarisch Aspekte der Lebensgeschichte einzelner Menschen geschildert, manchmal über mehrere Kapitel hinweg, um die Beziehungsgeflechte von Individuum und gesellschaftlicher Struktur herauszuarbeiten und zugleich deutlich zu machen, dass Menschen die
Geschichte prägen - ,,sie ,machen' sie und sie erleiden sie". In einer Gemeinschaftsaktion von
zahlreichen „freien" Autorinnen und Autoren sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Stadtarchivs Freiburg sollte mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Zugängen, Fragestellungen und Methoden, Sichtweisen und Stilmitteln die Vielgestaltigkeit der Stadtgeschichte
dargestellt werden. Um „die bewegenden Kräfte der Geschichte zu erfassen", war auch „auf
Alternativen der gesellschaftlichen Entwicklung", ,,auf das Mögliche, das nicht Wirklichkeit
wurde, und auf Untergegangenes" zu achten. Allen drei Bänden lag ein Grundschema zugrunde: Den ersten Teil des jeweiligen Bandes bildete ein chronologischer Durchgang durch die
Epochen im behandelten Zeitraum. In mehreren Kapiteln wurde er von „Schlaglichtern" ergänzt - kurzen, möglichst spannend erzählten Abschnitten zu interessanten Ereignissen und
Persönlichkeiten. In einem zweiten Teil wurden Themen vorgestellt, die eine systematische,
epochenübergreifende Betrachtung verdienten. Kontinuitäten, Brüche und grundlegende Veränderungen sollten hier besonders sichtbar werden. Nicht zuletzt war mit der Art der Darstellung beabsichtigt, die Leserinnen und Leser zur Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte anzuregen. 2 In den Rezensionen ist der grundsätzliche Ansatz der Freiburger Stadtgeschichte
überwiegend positiv gewürdigt worden.
Eugen Selber (1895-1982)
(2015)
Drei französische Soldaten standen in der Tür und richteten ihre Gewehre mit aufgepflanztem
Bajonett auf ihn. Monsieur Selber? An diese Szene am 21. Mai 1945 erinnert sich Ingeburg
Selber noch heute, als wäre es gestern geschehen. Die Soldaten verhafteten ihren Vater als Gestapobeamten und brachten ihn ins Gefängnis, wo er ein Dreivierteljahr blieb, bevor er in ein
Internierungslager eingeliefert wurde. Dabei hatte sich Ingeburg Selber so gefreut, dass der
Krieg vorbei war. Nach dem furchtbaren Luftangriff auf Freiburg am 27. November 1944 war
ihre Mutter Elisabeth (1901-1986) aus Angst, er könne sich wiederholen, mit ihr nach Burg/Höfen bei Kirchzarten auf einen Bauernhof gezogen. Ihr Vater kannte den Hofbesitzer, der damals
auch Bürgermeister von Burg war. Nun waren sie vereint wieder nach Freiburg zurückgekehrt.
Allerdings: Ihr Onkel Fritz Richter (1879-1947), der Inhaber des „arisierten" ehemaligen Kaufhauses Knopf, und seine Frau Bertha (1881-1962), eine Schwester ihres Vaters, waren bei dem
Luftangriff ausgebombt und nach Kriegsende von der französischen Militärverwaltung aus
dem Haus, in das sie hatten einziehen können, ausgewiesen worden. Eugen Selber hatte ihnen
daraufhin seine leer stehende Wohnung in der Kartäuserstraße 20 zur Verfügung gestellt. Die
Familie Selber wohnte deshalb bei einer Schwester der Mutter, Margarete Rink (1913-2009),
in der Kartäuserstraße 32. An diesem Tag, dem 21. Mai, hatte lngeburg Selber ihren Vater zu
Dr. Heinrich Mohr (1874-1951) begleitet. Dieser war ein bekannter katholischer Theologe, der
schon 1932 zur Wahl der NSDAP aufgerufen hatte und bei der Großveranstaltung zum 1. Mai
1933 als Redner aufgetreten war. Mehrfach hatte er mit der Gestapo zusammengearbeitet. Nach
Kriegsende diente er sich der französischen Militärregierung an. Wollte sich Eugen Selber mit
ihm beraten? Auf dem Nachhauseweg waren sie bei Fritz Richter vorbeigegangen. Er hatte sie
mit der schlechten Nachricht empfangen, dass die Franzosen da gewesen seien und nun in der
Kartäuserstraße 32 warteten. Und tatsächlich - als Ingeburg und Eugen Selber dort klingelten
und ihnen die Mutter öffnete, standen die Franzosen bereit und führten den Vater ab. Erst 1948
sollte Ingeburg ihn wiedersehen.