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- Hausenstein, Wilhelm 〈1882-1957〉 (15) (entfernen)
Im Lebenslauf des Schriftstellers Wilhelm Hausenstein (1882–1957) ergaben sich immer wieder Berührungspunkte zur Stadt Baden-Baden. Die ersten Besuche des jungen Schülers galten dem todkranken Vater, der in der Kurstadt vergebens Heilung erwartete. Nach dem Tode des Vaters nahm die Mutter in Karlsruhe Wohnung, von nun an fuhr sie mit ihrem Buben an vielen
Wochenenden nach Baden-Baden, um die dort lebenden Tanten Flora und Anna zu besuchen.
Schwarzwälder Jugend
(2000)
Die abfallende Seitenstraße neben dem großelterlichen Hause war das Rechte zum Rodeln oder, wie man dort drüben einfältiger sagte: zum Schlittenfahren. Sie kam, aus einer Gabelung zusammengewachsen, im Bogen von der oberen Altstadt und andrerseits von der großen Scheune des Großvaters herunter - der Scheune mit dem Familienomnibus, mit den
mancherlei Wagen für Menschen, Feldarbeit und Fracht, mit dem Heuboden und den Ställen, wo die vielen Milchkühe und in den guten Zeiten an die zwei Dutzend Gäule standen. Von dort oben also, wo schon das Reich der Geheimnisse und
Abenteuer anfing, lief die Straße, mäßig breit, zwischen dem Garten des reichen Nachbarn, des Fabrikanten, und dem Seitengärtchen der Villa hin, die unser Großvater zwischen Altstadt und Vorstadt für sich und die Schar der Seinigen
erbaut hatte - Patriarch mit weißem Bart, klugen, hellen, ein wenig hitzigen Augen, roten Bäckchen, blankem Schädeldach, mit guten Humoren und jener meisterlichen Strenge, die durch seine wohllebende Vorliebe für Gabelfrühstücke gemildert blieb. Uns Kindern war es eine hohe Lust, weit droben, am äußeren Zuweg zu der fallenden Straße, im fast schon Unbekannten hinter der Scheune, mit den niedrigen Schlitten anzusetzen und dann, im Triumph aus unwahrscheinlichen Fernen niederbrausend, am Seitengärtchen vorbeizufliegen - nicht ohne daß uns die schrägen Abzugsgräben, die über
die Straßen liefen, in die Höhe schleuderten wie Sprungbretter: aber dies steigerte die Pracht unserer Heldentat für den Blick des zuschauenden Altvaters, der in Pelz und Wasserstiefeln, das Quastenkäppchen auf dem munteren Greisenhaupt, durch den verschneiten Garten stapfte. Flogen wir endlich auf die quer liegende Hauptstraße vor, die im Tal drunten den Vorstoß unserer Rodelbahn empfing, so kannten wir keine Rücksicht - weder auf uns selbst noch auf die Leute.
Herbst im Elsaß (1927)
(2001)
In der Stadt meines Gastfreundes zu Colmar sind die Häuser zweistöckig und weiß; der Dachstock über den Etagen macht ein Knie nach dem Modell des Mansart, nach dem Geschmack der Zeit Ludwigs XIV., einem Geschmack, dessen Größe auch das Gemütliche kennt; der Kniestock ist mit Schiefer bekleidet; vor den Mansarden sitzen im Grau des Schiefers weißgerahmte Fenster wie barock geformte Broschen. Um die Häuser träumen Gärten wache Träume, Gärten im besonnten Zustand einer sanften Verwesung, die, so scheint es, ins Unendliche dauern wird; auf den feinen rötlichen Sandwegen liegen große gelbe, genau geschnittene Platanenblätter. Um die Gärten stehen übermannshohe Mauern; wildes Weinlaub malt eine rote und willkürliche Pracht auf den weißen Putz; es wuchert nach der stillen Straße draußen und wird - wir drinnen merken
es - gestreift vom Hut oder von den Fingerspitzen der wenigen, die gehört werden, wenn sie vorübergehen. Die Luft ist klar und mit Zartheit fest; die Luft ist eine durchsichtige Metaphysik voll leise glänzender und innig beruhigender, auch etwas trauriger Versicherungen. Es ist ein freundliches und wehmütiges Vorspiel von Allerheiligen ... Die Erde riecht ein wenig wie
auf den Friedhöfen.
Das Badische
(2007)
Ich sehe es nicht aus der Nähe, nicht unmittelbar, sondern aus einem ziemlich großen räumlichen, auch zeitlichen Abstand. Dreißig Jahre lang bin ich nun von zu Hause fort, und von der bayrischen Hochebene am Fuß der Alpen ist es bis ins Badische mehr als eine halbe Tagereise. Ich sehe das Badische in einer Ferne, die zugleich mit der süßen Schwermut und der umflorten Heiterkeit des Gewesenen, für mich Gewesenen bildhaft dasteht. Es ist mir ein wenig wund zu Mute; – aber in der Empfindung ist auch die Sicherheit: dies habe ich besessen – dies hat in mich hinein gewirkt bis auf den heutigen Tag –, dies Badische ist der ganz gewisse Stoff, aus dem mir Leib und Seele, Herz und Nerven gemacht sind ….
Um die Bedeutung von Orten, Städten, Landschaften für Hausensteins biographischliterarischen Haushalt richtig einschätzen zu können, ist es sinnvoll, von einem Beispiel der heutigen „Ortseinschätzung“ auszugehen. Exemplarisch bieten sich dazu Stellen an aus dem Roman von Richard Ford „Unabhängigkeitstag“ von 19951. Als Frank Bascombe, ein
geschiedener Immobilienmakler, das Strandhaus seiner Freundin Sally besuchte, hatte er das Gefühl, „schon einmal hier gewesen zu sein“. „Bloß dass nichts mir ein Zeichen gab, nichts mir zunickt. Das Meer bleibt verschlossen und das Land auch“. Und Frank Bascombe fährt in seinen Betrachtungen fort: „Ich weiß nicht genau, was mir die Kehle zuschnürt, die Vertrautheit des Ortes oder die halsstarrige Weigerung, sich erkennen zu geben“.
In dreifacher Weise hat Wilhelm Hausenstein in den Schriften wie „Badische Reise“ (1930), „Badisches Tagebuch“ (1941) und „Lux Perpetua“ (1947) „Badisches“ nicht nur zum Thema gemacht, sondern für seine Zeit exemplarisch beschrieben. An erster Stelle ist hier sein Loblied auf „Das Badische“ zu nennen, das als „Charta“ des Badischen gelten kann. An zweiter Stelle ist zu verweisen auf das „Schlüsselwort“ Liberalität, mit dem Hausenstein die badische Eigenart verschiedentlich zu charakterisieren versuchte. Und schließlich verdanken wir Hausenstein die einfühlsamsten, die Architektur der badischen Residenz würdigenden Texte.
Wilhelm Hausenstein
(2007)
„Baden – das ist nicht ein Staat. Baden – das ist eine zähe, vertrauliche und etwas verzwickte Familie.“ Und dieser Familie blieb er immer verbunden, auch in seiner zweiten Heimat München, auch als Diplomat in Paris. Der Schwarzwälder war ein Repräsentant deutscher Kultur, wie man ihn nach dem nicht nur staatlichen, sondern auch geistigen Zusammenbruch einer nationalistischen Diktatur Ende des II. Weltkriegs suchte. Seinen Lebensweg fünfzig Jahre nach seinem Tod zu verfolgen
heißt, sich der Markierungen zu erinnern, die er setzen konnte.
Auch nach 1933 war, wenigstens in Deutschland, nichts mehr so, wie es vorher gewesen war. Zahllose Lebensläufe, auch
bisher geradlinige, bogen plötzlich in andere Richtungen ab, brachen ab, verloren sich im Ungefähren und, im Ungewissen. Menschen tauchten unter, oder auch erst auf. Das Leben ging zwar weiter, aber wie?
,,Ich als geborener Badener"
(2005)
Der Anruf aus Bonn kam ungelegen. Denn jetzt, im März 1950, wollte Wilhelm Hausenstein endlich in Ruhe gelassen werden; wollte nur noch lesen, schreiben, auch reisen, kurz: sein eigenes Leben leben, das ohnehin zur Neige ging. Und dass er sich diese Ruhe redlich verdient hatte, konnte keiner bestreiten. Am 17. Juni 1882 war er in Hornberg im Schwarzwald geboren worden; hatte das Gymnasium in Karlsruhe und die Universitäten in Heidelberg, Tübingen und München besucht; und hatte, nach einer glanzvollen Promotion in mittlerer und neuerer Geschichte, Nationalökonomie und Paläographie, in Paris der ehemaligen Königin von Sizilien als Vorleser gedient und sich dann noch einmal in München in den Hörsaal gesetzt, um Kunstgeschichte zu studieren. Dann war er einer der bedeutendsten Kunsthistoriker, Kunstkritiker, Kunstschriftsteller, auch Reiseschriftsteller seiner Zeit geworden: mit zahllosen Artikeln und Aufsätzen und mit rund 40 Büchern etwa über barocke, expressionistische und exotische Kunst; über Fra Angelico, Giotto, Carpaccio, Rembrandt; über Paul Klee und andere zeitgenössische Künstler, mit denen er bekannt und befreundet war. Dann, nach 1933, hatte er keine Bücher mehr schreiben dürfen, aber als Redakteur der berühmten ,Frankfurter Zeitung' noch eine Weile überwintern können - aber ohne den Machthabern irgendeine Konzession zu machen; war schließlich doch entlassen worden und dadurch in große Not
geraten, auch weil Margot Hausenstein, die er 1919, mit Rilke und Preetorius als Trauzeugen, geheiratet hatte, eine belgische Jüdin war. Die einzige Tochter Renee-Marie hatte mit dem letzten Schiff noch nach Brasilien flüchten können.
Aus der langen Reihe von Büchern, die Wilhelm Hausenstein schrieb, sticht das eine, um das es hier geht, unübersehbar hervor; oder sollte man sagen, dass es aus der Reihe fällt? Dennoch, oder eben deshalb, ist es so oft wie kein anderes nach
seiner ersten Veröffentlichung, 1948 bei Karl Alber, immer wieder neu aufgelegt worden: 1958 bei Herder, 1976 im Süddeutschen Verlag, 1980 im Deutschen Taschenbuch-Verlag. Das Buch heißt: „Die Masken des Komikers Karl Valentin“. Ihm war, 1932 bei Knorr & Hirth, schon „Das Karl Valentin Buch“ vorausgegangen, als „Erstes und einziges Bilderbuch von Karl
Valentin, über ihn und Lisl [sic] Karlstadt, mit Vorwort und ernsthafter Lebensbeschreibung und Bildunterschriften von ihm selbst, sowie zwei Aufsätzen von Tim Klein und Wilhelm Hausenstein“. Und nun, 2019, ist es noch einmal erschienen,
bei Schirmer/Mosel, schöner als je zuvor.
„Unser Anteil am Westen“
(2019)
Am Ende seines Lebens konnte Wilhelm Hausenstein, der 1882 in Hornberg geboren worden war, von sich sagen, er habe „seit Kindesbeinen von meiner schwarzwäldischen Heimat her immer nach dem Elsaß auf die natürlichste und nächste Weise hinübergelebt“. Der Blick ging talabwärts, den Bächen und Flüssen nach, hin zum Rhein, ins Offene, Weite. Und nicht von ungefähr folgte dieser Blick dem Weg, den einst die Flößer genommen hatten, unter ihnen einer der Urgroßväter Hausensteins, der legendäre Johann Armbruster aus Wolfach. Er folgte zugleich der alten Poststraße, die von jeher Wien mit Paris verband. – Dagegen hat Hausenstein „oft erzählt, wie die Hornberger Schulbuben zur nahegelegenen Staatsgrenze, nach Schramberg zu, hinaufstiegen und den jenseits vermuteten württembergischen Bundesbrüdern ins Blaue hinein Beschimpfungen zuriefen“. Es war klar, wem die Sympathien galten, und wem nicht.
Und das ewige Licht ...
(2007)
Der Vater von Wilhelm Hausenstein stirbt früh; der Trauergottesdienst findet in Karlsruhe, in St. Stephan, statt. Auf den Sohn, der im evangelischen Glauben der Mutter aufgewachsen ist, macht dieser Raum und macht die ganze heilige Handlung einen tiefen Eindruck. „Am meisten aber berührt ihn das rubinrot glühende Licht der Ampel in der Kirche.“
Eigentlich hatte man ja gedacht, es sei alles schon gesagt: zumindest über die Jahre, die Wilhelm Hausenstein als erster konsularischer und diplomatischer Vertreter Deutschlands in Paris verbrachte und in denen er versuchte, das Eis zu brechen, ja zum
Schmelzen zu bringen. [1] Und war nicht auch schon alles über die
Schwierigkeiten gesagt, die man ihm, wie nicht anders zu erwarten, in Frankreich machte, aber ebenfalls in Deutschland? Offenbar nicht.
Dass wir uns heute hier versammelt haben, hat einen guten Grund, zumindest einen Anlass, oder vielmehr einen doppelten: 125 Jahre sind vergangen, seit Wilhelm Hausenstein in Homberg im Schwarzwald geboren wurde, und 50 Jahre, seit er in München starb. Und wenn wir schon mit Zahlen spielen, dann müssen wir auch die beiden Daten, die wir feiern, genauer
betrachten, um die Zeitgenossenschaft dessen, den wir feiern, besser zu begreifen. Als er geboren wurde, 1882, wurden auch James Joyce, Jean Giraudoux, Georges Braque, Igor Strawinsky geboren; als er starb, 1957, starben auch Alfred Döblin, Valery Larbaud, Curzio Malaparte, Constantin Brancusi, Henry van de Velde, Arturo Toscanini, Jan Sibelius. So also hießen die Zeitgenossen; und die Zeit hieß - in Deutschland - Zweites Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg, Bundesrepublik. Es waren 75 Jahre, nicht viele; aber sie hatten es in sich.
Wilhelm Hausenstein und das Morgenland? Über diesen Titel, dieses Thema wird sich zunächst, und zu Recht, auch der wundern, der Hausenstein kennt – ihn, der doch ein durchaus abendländischer, ein westlicher Mensch war, der auch die Grenzen Westeuropas kaum je überschritt; eigentlich nur einmal, und erst spät, nämlich 1929, als er nach Jugoslawien reiste. Da erst ging ihm, wie er schrieb, „das Morgenland auf“.