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Wer geglaubt hat, das Virus trifft nur alte Menschen, hat sich geirrt. Wer geglaubt hat, eine hochgebildete, zivilisierte Gesellschaft brächte genug Geduld, Disziplin und Vernunft auf, um mit erfolgversprechenden Gegenmaßnahmen die Pandemie rasch und nachhaltig zu stoppen, hat sich geirrt. Die Folge dieser und weiterer Irrtümer ist noch nicht absehbar. Das Virus grassiert und an Schuldfiguren fehlt es nicht: Bill Gates, Hillary Clinton, die Bundesregierung, die jüdische Weltverschwörung oder die geheime Herrschaft versteckter Reptilien. Masken werden als Maulkörbe verhöhnt, Billigflugtourismus und Saufpartys gelten als Menschenrechte. Auf Straßen und Plätzen wird ohne Masken und Abstand nach Rechtsaussen demonstriert, weil angeblich das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit abgeschafft sei.
Am 28. Januar 2020 wird in Deutschland der erste Erkrankte aus dem bayerischen Landkreis Starnberg gemeldet: Die neuartige Infektionskrankheit, die ihn befallen hat, bezeichnet die World Health Organization (WHO) am 11. Februar als Covid-19; das dazugehörige Virus erhält den Namen Sars-CoV-2. Im März sterben erstmals Deutsche daran, drei Wochen später gibt es in Italien und Spanien jeweils bereits fast 3500 Tote. Am 22. März einigen sich Bundesregierung und Länderchefs deshalb auf weitreichende Ausgangs-, Reise- und Kontaktbeschränkungen - den sogenannten Lockdown. Gegen diese staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie finden bald darauf in zahlreichen deutschen Städten Protestkundgebungen statt, am 25. April erstmals auch in der Ortenau.
Nie ist mir Stille so laut vorgekommen, wie in den ersten Frühlingsmonaten des Jahres 2020. Konnte man im Januar und Februar noch von einem laut summenden Getöse sprechen, verstummt die Welt im März nach einem lauten Paukenschlag vollends. Wörter wie „Lockdown“, „Risikogebiet“, „Maskenpflicht“, „Homeoffice“ und „Pandemie“ finden ihren Weg in die deutsche Alltagssprache, später auch in den Duden. Geschäfte und Restaurants schließen, offen hat nur noch was „systemrelevant“ ist. Zuhause bleiben lautet das gängige Credo, Straßen und Bahnen sind wie leer gefegt. Bis wir wieder aus dem Dornröschenschlaf erwachen, werden einige Monate vergehen. Dinge, die stets selbstverständlich schienen, sind plötzlich nicht mehr möglich. An diesem Punkt möchte ich ansetzen und mich mit der Frage beschäftigen: Trotz aller Entbehrungen - was hat uns die Pandemie gelehrt?
Das Jahr 2020 neigt sich langsam dem Ende zu; es sind zwar nur noch wenige Wochen, aber trotzdem entscheiden sich in dieser kurzen Zeit noch maßgebende Dinge, die den Kurs unserer globalen Zukunft vorerst lenken werden. In Anbetracht all der Nachrichten und Ereignisse, die es in den letzten Monaten zu erfahren gab, scheint die Erinnerung an den Jahresbeginn schon fast surreal - ich war zu Jahresbeginn noch auf einem Konzert: mit ganz vielen Menschen, die dicht an dicht standen, alle in einer Halle waren und dazu auch noch die gleiche Luft geatmet haben! Eine Erinnerung, die aktuell nicht vorstellbar und auch gedanklich kaum auszuhalten ist. Die Erfahrung der Corona-Pandemie hat sich beispielsweise in der Wahrnehmung von Menschenansammlungen und allgemein Körperkontakt niedergeschlagen: Schaut man sich heute einen Film an, in dem eine größere Menge an Menschen zu sehen ist, kann man seit der ersten Lockclown-Erfahrung gedanklich schon beinahe eine
Stimme „Corona!“ rufen hören.
Augustin Bea (*1881), Kardinal aus der Gesellschaft Jesu, starb am 16. November 1968 in Rom. Ebendort war ich wenige Wochen zuvor, am 2. Oktober, für die Diözese Aachen in das „Pontificium Collegium Germanicum et Hungaricum“ („Päpstliches Deutsch-Ungarisches Kolleg“) aufgenommen worden. Ich stand also ganz am Anfang meiner römischen Erfahrungen, als ich mich am Vormittag des 19. November zusammen mit anderen Germanikern auf den Weg nach Sankt Peter machte, um dort an dem Requiem für Kardinal Bea teilzunehmen.
Schwarzwälder Jugend
(2000)
Die abfallende Seitenstraße neben dem großelterlichen Hause war das Rechte zum Rodeln oder, wie man dort drüben einfältiger sagte: zum Schlittenfahren. Sie kam, aus einer Gabelung zusammengewachsen, im Bogen von der oberen Altstadt und andrerseits von der großen Scheune des Großvaters herunter - der Scheune mit dem Familienomnibus, mit den
mancherlei Wagen für Menschen, Feldarbeit und Fracht, mit dem Heuboden und den Ställen, wo die vielen Milchkühe und in den guten Zeiten an die zwei Dutzend Gäule standen. Von dort oben also, wo schon das Reich der Geheimnisse und
Abenteuer anfing, lief die Straße, mäßig breit, zwischen dem Garten des reichen Nachbarn, des Fabrikanten, und dem Seitengärtchen der Villa hin, die unser Großvater zwischen Altstadt und Vorstadt für sich und die Schar der Seinigen
erbaut hatte - Patriarch mit weißem Bart, klugen, hellen, ein wenig hitzigen Augen, roten Bäckchen, blankem Schädeldach, mit guten Humoren und jener meisterlichen Strenge, die durch seine wohllebende Vorliebe für Gabelfrühstücke gemildert blieb. Uns Kindern war es eine hohe Lust, weit droben, am äußeren Zuweg zu der fallenden Straße, im fast schon Unbekannten hinter der Scheune, mit den niedrigen Schlitten anzusetzen und dann, im Triumph aus unwahrscheinlichen Fernen niederbrausend, am Seitengärtchen vorbeizufliegen - nicht ohne daß uns die schrägen Abzugsgräben, die über
die Straßen liefen, in die Höhe schleuderten wie Sprungbretter: aber dies steigerte die Pracht unserer Heldentat für den Blick des zuschauenden Altvaters, der in Pelz und Wasserstiefeln, das Quastenkäppchen auf dem munteren Greisenhaupt, durch den verschneiten Garten stapfte. Flogen wir endlich auf die quer liegende Hauptstraße vor, die im Tal drunten den Vorstoß unserer Rodelbahn empfing, so kannten wir keine Rücksicht - weder auf uns selbst noch auf die Leute.
Meine Höri
(2000)
Was bedeutet Ihnen die Höri? Das werde ich immer wieder gefragt. Man nimmt an, wer hier lebt und malt, muß es wissen. Und verweist auf die vielen Maler, die vor Jahrzehnten hier wohnten, eine Litanei inzwischen bekannter Namen, die da genannt werden. In der Welt draußen gepriesene Namen, die auf diese kleine Landschaft einen Glanz werfen. In ihrer Kunst ist die Höri Bild geworden. Und darauf kann man stolz sein. Der Blick auf ihre Besonderheit und Schönheit ist geöffnet, am klarsten, wie ich meine, durch die Bilder des Malers Adolf Dietrich, der drüben in Berlingen schaffte: Er ist der Eigenart von Untersee und Höri wie kaum einer gerecht geworden. Man weiß auch um die Schriftsteller, die die Höri literarisch gemacht haben. Es trifft zu, was Erhart (nicht Erich) Kästner kühn formuliert hat: „Immer muß erst der Dichter kommen und sehen. Wirklich sind nur die bedichteten Dinge.“ Da erst wird das gewöhnlich Übersehene zum Besonderen. Das stimmt so für Hermann Hesse und Ludwig Finckh, für den philosophischen Ernst Bacmeister, für Klaus Nonnenmann, für Werner Dürrson, hier vor allem auch für Jacob Picard aus Wangen, dem bisher einzigen literarisch bedeutenden Schriftsteller, der auf der Höri geboren ist.
Kriegsende in Konstanz
(2000)
Gestützt auf sein Tagebuch, das er als Konstanzer Schüler zumeist auf lateinisch führte und mit Zeitungsausschnitten u. a. von Wehrmachtsberichten versah, sowie auf seine Erfahrungen im 3. Reich und in der Nachkriegszeit, schrieb Manfred Hanloser um 1985 seine Erinnerungen. Im Zusammenhang mit meinem Artikel über seine Fotos von der kampflosen Einnahme seiner Geburtsstadt erklärte er sich bereit, einen Auszug aus seinen persönlichen Notizen erstmals zu veröffentlichen. (Werner Klipfel)
Ein Leserbrief im Januar 1998 zeigt: das Thema ist angekommen, die Botschaft nicht. Halt - welche Botschaft? An was wollen und sollen wir uns erinnern? Die Herausstellung welcher Orte und welcher Personen, die Erinnerung an welche Ereignisse und welche Ideen aus diesen drei Jahren kann Identität - z. B. nationale, demokratische Identität - fördern oder gar entstehen lassen. Und wie wird diese Erinnerung von wem akzentuiert: z. B. als Revolution badischer Demokraten, als Deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung oder als Europäischer Völkerfrühling? Gibt es diese gemeinsame Erinnerung überhaupt noch? Oder dienen historische Ereignisse in einer pluralen Gesellschaft nur noch Gruppeninteressen? Sucht sich jeder aus dem Kaleidoskop der Revolutionsgeschichte nur die Bilder, die ihm z. B. zur Legitimation seiner aktuellen politischen Interessen dienen können: Friedrich Hecker - als Kämpfer der Entrechteten für die PDS, Carl Mathy - als ungeliebter Realpolitiker für die SPD, Adolf Kolping - für eine soziale CDU, der lavierende Heinrich von Gagern - für die FDP und der Vegetarier Gustav Struve - vielleicht für die Grünen? Wen erreichte die Erinnerung an die Revolution 1848/ 1849 über welche Identifikationsmöglichkeiten?
Ich bin im August 1937 in Bruchsal geboren und wohnte bis zur Zerstörung der Stadt am ersten März 1945 in einem großen L-förmigen Mietshaus, mit zwölf Wohnungen und zwei Eingängen. Der eine Eingang mündete auf die Wilderichstraße und der andere auf die Schloßstraße. Der geräumige Hinterhof mit seinen Teppichstangen und kleinen Gärten war allen gemeinsam. Und die Kinder vom Eingang Wilderichstraße und vom Eingang Schloßstraße kannten sich und spielten miteinander. Für
mich kam vom Eingang Wilderichstraße altersgemäß nur der gutmütige „Hauserklaus" in Frage. In meinem Eingang wohnten Winfried und Gisela, die ein Jahr älter waren, und als stolze Erstkläßler auf mich herabsahen. Als Besitzerin eines - mit einer Kerze betriebenen - Puppenherds, auf dem man nicht nur Brotsuppe kochen konnte, wußte ich mich aber unentbehrlich zu machen.