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Selma Rosenfeld (1892-1984)
(2010)
Bisher war es wenigen Eppingern vergönnt,
im Ausland im akademischen Bereich
erfolgreich zu sein und sich einen bleibenden Namen zu schaffen. Die am 16.8.1892
in Eppingen geborene Selma Rosenfeld ist
bisher eine der wenigen Ausnahmen. Sie
war die Tochter von Louis und Regine
Rosenfeld, geborene Freudenthaler, und
verbrachte sowohl ihre Kinder- als auch
ihre Jugendzeit im Kraichgau. Die Familie
des Vaters stammte aus Hoffenheim und
lässt sich dort bis ins frühe 18. Jahrhundert
nachweisen. Im Rahmen des badischen
neunten Konstitutionsediktes vom 13.
Januar 1809 wählten ihre Vorfahren den
Namen Rosenfeld. Die Familie ihrer Mutter stammte aus Richen und lässt sich dort
ebenfalls bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Eltern heirateten am 5. Februar
1889 in Hoffenheim und zogen kurz nach
der Geburt ihres zweiten Kindes Adolf 1891
ins Haus der mütterlichen Großeltern nach
Eppingen. Selmas Großvater, Kaufmann
Freudenthaler, hatte bereits am 8. Februar
1876 den Ratskeller erworben. Selma
hatte zwei weitere Geschwister: Mina
(geboren 1889 in Hoffenheim) und Julius
(geboren 1900 in Eppingen). Im April 1899
begann sie mit der Volksschule.
Der Projektor steht seit fast drei Jahrzehnten still, als der Technische Ausschuss des
Eppinger Gemeinderats in den Rössle-Lichtspielen die Regie übernimmt und
diese ein letztes Mal in Szene setzt. Am 25.
November 2008 beschließt das Gremium
einstimmig, das Kino abzureißen. Das
Dach ist undicht, das Gebäude marode.
Der rückwärtige Teil der Gaststätte Rössle
in der Rappenauer Straße ist nicht mehr zu
halten. Damit startet der endgültige
Abspann der Eppinger Kinogeschichte in
der Altstadt, die fast 90 Jahre zuvor begonnen hat.
Im Februar 1912 rüstet sich das Ministerium des Innern in Karlsruhe für die bewegten Bilder. An die Bezirksämter richtet es
sein Schreiben Nummer 187: „Wie uns mitgeteilt wird, finden neuerdings die Kinematrographen auch in kleineren Stadt- und
Landgemeinden ausgedehntere Verbreitung.” Ziel des Briefs ist, die lokalen Behörden auf den Umgang mit der neuen, aufstrebenden Form der Unterhaltung vorzubereiten. Die Bürgermeisterämter müssen
beispielsweise verlangen, dass die Kinochefs jedes neue Programm vorlegen -
„soweit erforderlich unter Inhaltsangabe der
einzelnen Stücke”. Werke, „die schon nach
ihrer Bezeichnung und Inhaltsangabe zu
Bedenken Anlass geben”, sind zu verbieten. Zurückgenommen werden darf das
Verbot nur, wenn der Streifen in einer nicht
öffentlichen Vorführung die Bedenken zerstreut.
Erinnerungen an Emil Thoma
(2010)
Seit meiner frühen Kindheit kannte ich
Stadtpfarrer Emil Thoma persönlich. Aufgrund dieser persönlichen Beziehung ist es
durchaus berechtigt, diesen Beitrag
„Erinnerungen an Emil Thoma” zu überschreiben.
Meine Mutter starb, als ich drei Jahre und
mein Bruder Hugo viereinhalb Jahre alt
waren. Die Schwester meiner Mutter, Tante
Mathilde Meny, verpflichtete sich an deren
Sterbebett, für uns Kinder zu sorgen - ein
Versprechen, das sie sehr ernst nahm. Mein
Vater, der als Bahnbeamter in Sinsheim
arbeitete, verheiratete sich bald wieder
nach dem Tod unserer Mutter. Deshalb verbrachten mein Bruder Hugo und ich auch
unsere Schulzeit noch in Sinsheim. Nach
dem Abschluss der Volksschule zog ich
1938 zu Tante Mathilde nach Eppingen, von
wo aus ich die Handelsschule in Heilbronn
besuchte.
Von meinem hundert Jahre alten handgeschriebenen Stammbaum konnte ich ableiten, dass ich in der sechsten Urenkelgeneration von einem Levi abstamme, der, um
1710 geboren, in Eppingen, einer Kleinstadt in Südwestdeutschland
lebte. Das Vorwort zu dieser Stammtafel
beginnt mit einer stilistisch gedrechselten
Feststellung:
"Weitsichtige Familien führen Buch über
ihre Generationen, ein Brauch, der schon
im Buch der Bücher, der Bibel, vorkommt,
wo detaillierte Beschreibungen von einzelnen Personen und ihren Nachfahren zu finden sind. Unter den Israeliten war es yichus, eine Ehre, wenn über eine Familie
gut gesprochen wird. In diesem Sinne verdient die Familie Frank von Eppingen diese
Anerkennung wegen ihres beispielhaften
Bürgersinns und ihrer Humanität."
Die direkte Abstammungslinie der Franks
wird in der Stammtafel mit dem Geburtsjahr
jeder Person wie folgt aufgeführt: Levi (um
1710), Isaak (um 1735), Levi (1765) und
lsaak (1793). Von der Zeit ab wurden die
Namen weltlich, und die Kette setzt sich fort
mit Namen wie Wolf, Julius, Arthur und
schließlich mir, Werner Ludwig, jetzt als
Werner Louis Frank bekannt.
Das Stadtarchiv Eppingen
(2010)
Das Stadtarchiv verwahrt die amtliche kommunale Überlieferung der Stadt Eppingen
und der eingemeindeten Orte Adelshofen,
Elsenz, Kleingartach, Mühlbach, Richen
und Rohrbach. Die Bestände gehen bis in
das Jahr 1303 zurück.
Daneben werden weitere Quellen zur Ortsgeschichte aufbewahrt und gesammelt;
dazu gehören Nachlässe, Zeitungen, Zeitschriften, Videos, CD-ROM, Fotos und Plakate.
In der Archivbibliothek werden wichtige Literatur zur Geschichte der Stadt und ihrer
Ortsteile sowie wissenschaftliche Handbücher zur Erschließung der Bestände gesammelt.
Erst nach einem Intervall von zwei Jahrzehnten nach der Aufgabe der Freiburger Druckerei von
Friedrich Riederer im Jahr 1500 und nach einem kurzen Intermezzo des Straßburger Druckers
Johann Schott, der 1503 in Freiburg die Erstausgabe der „Margarita philosophica" seines Lehrers Gregor Reisch druckte, etablierte Johann Wörlin in der Breisgauhauptstadt wieder eine
Druckerwerkstatt. Johann Wörlin wird 1517 als Mitglied der Freiburger Krämerzunft „Zum
Falkenberg" erwähnt. Der Name ist auch heute noch im südalemannischen Raum verbreitet und
bedeutet einen verkürzten Kosenamen von Werner. Eine akademische Vorbildung wie bei seinen Vorgängern Kilian Fischer und Friedrich Riederer oder wie bei dem berühmten, aus Freiburg stammenden Kartografen Waldseemüller ist in den Matrikeln der Universitäten von Freiburg und Basel nicht nachweisbar. Er handelte wohl zunächst als Buchführer. Im Jahr 1522 erschienen in seiner Werkstatt zwei Werke von Jakob Mennel, dem Freiburger Stadtschreiber und
späteren Hofhistoriografen Kaiser Maximilians. Zu den Autoren seiner Schriften zählten der
Konstanzer Bischof Hugo von Hohenlandenberg, dessen Generalvikar Johann Fabri, der Straßburger Augustinerprior Konrad Treger, der Augsburger Stadtprediger Mathias Kretz sowie der
Zürcher Unterstadtschreiber Joachim vorn Grüdt und der päpstliche Legat Lorenzo Carnpeggio. Erasmus von Rotterdarn ist bei ihm mit vier Traktaten vertreten. ,,Neüwe Zeytungen" Wörlins berichten über den Bauernkrieg, die Schlacht von Pavia und von den Türkenkriegen. Seine
Flugschriften enthalten Liedertexte und Gesundheitsratgeber. Insgesamt lassen sich im „Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet im 16. Jahrhundert erschienenen Drucke" (VD 16) 32
Titel aus der Werkstatt Wörlins nachweisen. Dazu kommt eine schlecht zu schätzende Anzahl
von heutzutage nicht mehr vorhandenen Drucken. Aus einem Vergleich eines Katalogs des 18.
Jahrhunderts mit heutigen Bibliotheksbeständen beziffert Engelsing den Schwund auf 30 bis
50 %.[1]
Georg Philippi †
(2010)
Mit dem Namen Georg Philippi verbindet sich ein weites Feld botanischer Arbeit. Ihn als Bryologen oder als Pfanzensoziologen, als Ökologen oder gar als Floristen zu bezeichnen, würde nur einen Teil seiner wissenschaftlichen Tätigkeit umreißen. Er war all dies in einer Person, und dies ist aus heutiger Sicht eine sehr selten gewordene Breite – deshalb dürfen wir ihn als eine Ausnahmeerscheinung in der Feldbotanik unseres Landes sehen. Mit Bewunderung nehmen wir wahr, mit welcher Gründlichkeit er in all diesen Bereichen arbeitete – abzulesen an der Qualität seiner Publikationen, die große Erfahrung widerspiegeln. Sein Arbeitsfeld war das Gelände. Seine dort gemachten Beobachtungen und gewonnenen Kenntnisse der Arten und ihrer Habitate waren Ausgangspunkt seiner Themen und Projekte.
Zehn Unterfamilien der Ichneumoniden werden bearbeitet: Agriotypinae, Diacritinae, Metopiinae, Microleptinae, Orthopelmatinae, Oxytorinae, Paxylommatinae, Phrudinae, Stilbopinae und Tersilochinae. 114 Arten werden aus Baden nachgewiesen. Das entspricht etwa 52 % des deutschen Faunenbestandes. Sieben Arten sind für Deutschland neu oder fehlen im Verzeichnis der Ichneumoniden Deutschlands (Horstmann 2001): Exochus fetcheri Bridgman, 1884, Stethoncus sulcator Aubert, 1965 (Metopiinae), Astrenis brunneofacies Vikberg, 2000, Astrenis nigrifacies Vikberg, 2000, Phrudus defectus Stelfox, 1966 (Phrudinae), Allophroides platyurus (Strobl, 1904) und Phradis polonicus Horstmann, 1981 (Tersilochinae).
Überlingen quillt über mit Kunst. Mit moderner wie auch älterer, aber vor allem
mit älterer Kunst. Dennoch sei die Frage erlaubt: Wieviel Italien darf es denn sein? Wie viel an italienischer Kunst verträgt eine so durch und durch deutsche Kleinstadt wie
Überlingen?
Nicht sehr viel. Schaut man vom Hügel, auf dem das Städtische Museum residiert,
auf Häuser und Kirchen hinunter und weiter hinaus auf den Bodensee (Abb. i), dann wird schnell klar, dass die Bürger dieses
durchs Mittelalter geprägte Gemeinwesen mit unleugbar anheimelndem alemannischen Charme sich nur ungern
von fremden Einflüssen gestört wissen
wollten. Ironischerweise ist aber gerade das dortige Museum ein Ort italienisch anmutender Architekturkunst.
Er ist der einzige. Ansonsten treffen
wir Künstler der Region an, die eine
Menge Mittelmäßiges und Unbedeutendes hinterlassen haben. Nur wenige ragen darüber hinaus: Der Bildschnitzer Gregor Erhart wäre zu nennen oder Jörg Zürn, der Schöpfer des
Hochaltars im Münster.
»Wer kennt sie nicht, die internationale Bodenseeregion mit den Anrainern Deutschland,
Schweiz, Liechtenstein und Österreich, die Region mit der unvergleichlich schönen Landschaft, Kultur
und Geschichte. [...] Wer aber kennt den Wirtschaftsstandort Bodensee? Wer denkt an Unternehmen
wie Nycomed, Nestle-Maggi, Alcan, Georg Fischer oder Schiesser, an ZF, MTU, Zeppelin, Dornier
oder EADS, an WoIford, Zumtobel, Hilti oder Arbonia Förster, wenn vom Bodensee die Rede ist?
Die Bodenseeregion hat zwar ein positives, aber auch ein sehr einseitiges Image - das Image der Erholungs-, Freizeit- und Ferienregion.«
Diese Analyse stammt aus der Feder der Initiative Bodensee Standort Marketing
(BSM), einem grenzüberschreitenden Zusammenschluss von Kreisen und Kantonen,
der es sich zum Ziel gemacht hat, ein anderes Image der Bodenseeregion, nämlich das
einer wirtschaftlichen und industriellen Kernregion und eines High-Tech-Standorts, zu
befördern. Aus Sorge um eine einseitige Außenwahrnehmung heraus wurde die Markeninitiative »Bodenseeland - United Innovations« gestartet, in der dem Bild von der malerisch-idyllischen Natur- und Kulturlandschaft das Gegenbild eines leistungsfähigen
Wirtschaftsstandortes mit hoher Industriedichte und Wertschöpfung entgegengestellt
wird.
Die Katholische Kirche ist mit reformbeflissenen Kritikern aus den eigenen Reihen nicht immer gut umgegangen. Zwar durften manche die Genugtuung erfahren,
noch zu Lebzeiten offiziell rehabilitiert zu werden, andere, denen die amtskirchliche
Anerkennung lebenslang versagt blieb, fanden immerhin nach ihrem Tod früher oder
später, wenn die Zeit und die Umstände reif sein mochten, einen ihnen gebührenden Respekt, wiederum andere sind gänzlich und endgültig ausgesondert worden, obwohl ihre
vermeintlich irrigen Ideen im institutionellen Gedächtnis der Kirche gespeichert blieben
und - wenn auch als abgelehnte - die Wirkung des Widerspruchs entfaltet haben, so dass
in einem gewissen Sinne auch die Häretiker zur Kirche gehören.
Im Landschaftsschutzgebiet zwischen Lindau und Bregenz steht an der alten
Landstraße ein auffallendes, altertümliches Gebäude, dem eine erst kürzlich erfolgte
Verjüngungskur deutlich anzusehen ist. Es handelt sich um die Villa Leuchtenberg, eine
der bemerkenswertesten Villen am bayerischen Ufer des Bodensees. Sie verdient nicht
nur als bauhistorisches und gartenhistorisches Dokument besonderes Interesse, sondern auch als historisches Zeugnis, in dem Familiengeschichte, Industriegeschichte und
Kulturgeschichte ineinandergreifen. Sie ist der Brennpunkt eines Bezugsgeflechts, das
weit über den engeren regionalen in einen überregionalen Rahmen reicht.
Das unbekannte Gesamte
(2010)
Der Planer schaute aus dem rund geformten Fenster einer Jugendstilvilla hinaus
auf eine Allee, die an das Bodenseeufer führte. Gerne wäre er dort hingegangen am Ende eines für ihn ereignislosen Tages, aber es war noch nicht Feierabend. Also durfte er
nicht. Der Leiter allerdings durfte. Seine untersetzte, massige Figur bewegte sich behände zwischen den Baumreihen auf die glitzernde Wasserfläche der Konstanzer Bucht
zu.
Über den Namen der Lindauer Patriziergesellschaft Zum Sünfzen ist viel gemutmaßt und gerätselt worden. Die ersten Deutungsversuche des offenbar unverständlichen
Wortes begannen im Jahr 1870. Durch Friedrich Boulan wurde zunächst die Herleitung
von dem Wort Zunft in Vorschlag gebracht. Um 1880 vermeinte K. Primbs den Sünfzen
von Seufzen/Seufzer abzuleiten. Da die Lindauer Patriziergesellschaft einen fließenden
Brunnen im Wappen führte, bezog Primbs dieses Seufzen als Plätschern bzw. Rauschen
auf diese Darstellung eines Röhrenbrunnens. 1899 verfiel Lic. Dr. Karo auf die Idee, das
griechische Wort Symposion im Sinne von Gastmahl, Trinkgemeinschaft zugrunde zu
legen, was Pfarrer Wolfart 1903 nachhaltig befürwortete. 1907 schlug Sigmund Keller,
immer noch auf der Grundlage von Karos »Symposion«, die Auslegung Gilde und damit
wiederum Zunft vor. 1921 beschäftigte sich Wilhelm Beck aufs Neue mit dem Phänomen
und verfolgte die Ableitung des Worte Sünfzen von Consunta, womit er ein Vereins- bzw.
Vergnügungslokal junger Leute der italienischen Oberschicht aus der Zeit Dantes im
Auge hatte3. 1956 brachte schließlich Alfred Otto Stolze die Diskussion zum vorläufigen
Abschluss, indem er dafür plädierte, das Wort Sünfzen von althochdeutsch sufan = Trinken abzuleiten
Die alttestamentlichen Propheten auf den spätromanischen Wandgemälden der Klosterkirche zu Lobenfeld
(2010)
Seit der Reformationszeit befindet sich die ehemalige Klosterkirche in Lobenfeld mit ihren gegen Ende des 12. oder am Beginn des 13. Jahrhunderts entstandenen romanischen Wandmalereien im Besitz der evangelischen Landeskirche und der örtlichen
Kirchengemeinde. Ihre wertvollen alten Wandgemälde sind allerdings bis ins 20. Jahrhundert hinein so gut wie unbeachtet geblieben. Gerade einhundert Jahre sind jetzt vergangen, seit der spätere Freiburger Kunsthistoriker Joseph Sauer (1872–1949) sie der Vergessenheit entriss, als er sie im Rahmen der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme der badischen Kunstdenkmäler zum ersten Mal untersuchte und würdigte (1910). Seit Sauers Untersuchung gingen jedoch – über die beiden Weltkriege hinweg – noch einmal acht Jahrzehnte ins Land, bis längst notwendige Reparaturen und weiterführende Umbauten am Kirchengebäude in Angriff genommen werden konnten.
Der alte Philipp
(2010)
Man muss schon in ein älteres Lexikon schauen, um dem Begriff Klimakterium ohne physiologische Engführungen zu begegnen. Klimakterium bedeutet Stufenalter und die Wahrnehmung eines Menschen in Altersstufen, in Klimata. Es bedeutet kritische Lebensphase, wobei die Krisis im Schwinden der Lebenskräfte bestehen kann oder aber in der Wahrnehmung übergeordneter, z. B. auch astrologischer Konstellationen. Dann aber ist es nicht weit auch zu mystischen, gar kabbalistischen Zahlenspielen. So kann die Zahl 7 oder auch die 9 eine besondere Rolle spielen und die Kombination ergäbe dann ein Lebensalter von ca. 63 Jahren, wozu als Beispiel schon das Lebensalter des Martin Luther herhalten könnte — oder eben das Philipp Melanchthons
Gibt es ein liberales Erbe?
(2010)
Gibt es ein liberales Erbe? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst darüber verständigen, was wir unter dem liberalen Erbe verstehen wollen. Drei Punkte will ich einleitend nennen: Zum liberalen Erbe gehört 1. eine evangelische Kirche, die ein weites Herz hat. Sie übt keinen Bekenntnis- und Glaubenszwang aus. Sie lässt den Glauben eine innerliche Angelegenheit des einzelnen Menschen sein. Sie wertet die formelle Kirchenmitgliedschaft, die nur anlässlich der Kasualien den Kontakt zur Gemeinde sucht, nicht ab. Sie unterstützt den Gemeindegedanken, will, dass sich die Kirche von unten her bildet, durch das lebendige Engagement ihrer Mitglieder.
Als die frühere EKD-Ratsvorsitzende und Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, in ihrer Neujahrspredigt am 1. Januar 2010 in der symbolträchtigen Dresdner Frauenkirche die ethische Legitimation des Afghanistan-Krieges anzweifelte,
löste sie damit ein publizistisches Echo aus wie wohl selten ein Ratsvorsitzender in den zurückliegenden Jahrzehnten. Dabei ist die Beschäftigung mit friedenspolitischen Fragen ein Kernthema evangelischer Theologie und Kirche. Bei besonders kontrovers diskutierten Fragen hat sich die EKD stets zu Wort gemeldet wie etwa mit der Denkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“ auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte 1981 ebenso wie mit den breit angelegten Debatten zum gleichen Thema auf den Evangelischen Kirchentagen Hamburg 1981 und Hannover 1983. Auch zum Vietnamkrieg Ende der sechziger Jahre nahm die Evangelische Kirche Stellung, ebenso bedeutsam war ihre aktive Teilnahme an der Wiederaufrüstungsdebatte in den ersten Jahren nach Gründung der Bundesrepublik.
Wenn wir eben zum Melanchthongedenken einen ökumenischen Gottesdienst gefeiert haben und jetzt zu dieser weltlichen Festakademie zusammengekommen sind, dann darf niemand daraus schließen, Melanchthon könne in einen Christen
einerseits und einen säkularen Weltmenschen andererseits aufgespalten werden. Auch seine spätere Wirkungsgeschichte
und seine heutige Bedeutung können so nicht zerlegt werden. Was Melanchthon in Wittenberg als Universitätsreformer und
für andere Städte als Schulreformer gewesen ist; was ihn zum Praeceptor Germaniae, zum Briefpartner mit Fürstenhäusern
und Gelehrten in Europa machte; weshalb er im Jahr 1557 bei einem Besuch in Heidelberg als „die Leuchte von ganz
Deutschland“ gefeiert wurde, lässt sich nicht trennen von seiner Rolle als Reformator der Kirche. Melanchthon ist eine der
großen Figuren, bei denen Glaube und säkulare Kultur zusammengehören, ohne dass der Glaube weichgespült oder säkulare Kultur religiös überfremdet worden wäre.