943 Geschichte Deutschlands
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„Zu Unrecht Vergessene“ heißt eine Buchreihe. Zu ihnen gehört auch Karl Hagner. Er wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Wäre er nicht 32jährig am Kriegsende gefallen, wäre er vielleicht ein „badischer Dichterpfarrer“ geworden.
Hagner gehörte in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts zu den jungen evangelischen Dichtern im Umfeld des Eckart-Kreises und des Furche-Verlags, auf die hoffnungsvolle Erwartungen gerichtet waren. Schon als Student schrieb er einen Roman und veröffentlichte Gedichte. Seine Begabungen wurden jäh abgebrochen durch die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Diese Skizze soll mithelfen, dass er nicht vergessen bleibt. Als Kindergottesdienstkind habe ich ihn erlebt, als er 1937 als Vikar an die Weinheimer Stadtkirche kam. Ich mochte ihn sehr und freute mich, wenn er Kindergottesdienst hielt. Einmal in der Woche kam er zum Mittagessen zu uns. Hager war Hagner, mit einer randlosen Brille – und sehr zugewandt.
Er stammte aus einer bäuerlichen Familie im Kraichgau, studierte Theologie, wurde Vikar, Soldat, Offizier. Kurz vor Kriegsende, im März 1945 fiel er. Hagner hatte nicht lange vor seinem Tod noch geheiratet. Anfang der Neunzigerjahre entdeckte
ich, dass seine Witwe in Langensteinbach lebt.
In einem Überblick über den Stand der Erforschung der badischen Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts benennt Udo Wennemuth zahlreiche Desiderate, nicht zuletzt über die eigentlich gut und breit erforschte Zeit des „Dritten Reiches“. Unter anderem führt Wennemuth aus: „Die Arbeit der Kirche im ‚Untergrund‘ ist noch unerforscht. Manches weiß man vom Hörensagen.“ Eine Auswertung von Quellen stünde jedoch aus. Auf Grund der Aktenlage bleibt es schwierig, das real Erlebte zu rekonstruieren – selbst dann, wenn zahlreiche Materialien vorliegen. Ehemalige „Deutsche Christen“ (DC), sofern sie den Krieg überlebten, verwahrten nach 1945 zahlreiche Dokumente und haben diese nicht selten noch zu Lebzeiten vernichtet, um weitere eigene Verstrickungen nicht bekannt werden zu lassen. Auch bei der Bekennenden Kirche (BK) können, so Wennemuth, nicht „[d]ie gesamten internen Prozesse“ beschrieben werden. Hier fehlt oft das Material, das vor 1945 ja außerordentlich belastend gewesen wäre. Die volkskirchliche „Mitte“ dagegen hat ihre Positionen nicht detailliert begründet und eher versucht, sich nicht zu äußern, so dass nur das Archivmaterial des traditionellen kirchlichen Alltags entstand. Manfred Gailus resümiert forschungsgeschichtlich zu Recht: „Eine Sozialgeschichte des Kirchenvolkes im NS-Staat steht sowohl für den Protestantismus als auch für den Katholizismus noch aus.“
Für die Darstellung der Biographie von Wilhelm Holzwarth kann nicht nur auf die überlieferte Spruchkammerakte zurückgegriffen werden, sondern auch auf persönliche Dokumente, die sowohl das Privatleben als auch die Parteifunktionen
widerspiegeln. Diese Dokumente gelangten bei Kriegsende im Zuge einer Hausdurchsuchung vor der Verhaftung von Wilhelm Holzwarth am 8. September 1945 an die amerikanische Besatzungsmacht und wurden später an die zuständige Spruchkammer Ludwigsburg übergeben. Nach der Aufösung der Spruchkammer wurden die Unterlagen dem Staatsarchiv Ludwigsburg
abgeliefert und stehen dort heute der Forschung zur Verfügung. Wilhelm Holzwarth wurde am 27. März 1889 in Oberderdingen geboren, wuchs dort unter »kleinbäuerlichen Verhältnissen« auf und besuchte die Volksschule. Das eigene Elternhaus beschrieb er als »pflichtgetreu« und »vaterländisch gesinnt«.
Ein junger Mann überlebt das »Dritte Reich« nur mit größter Not. Er hatte sich im totalitären Weltanschauungsstaat in Not gebracht – auf Grund seines christlichen Glaubens konnte er nicht anders. Der »Fall« von Ernst Münz lässt sich mit den Akten aus Kirche und Justiz und einem Nachlass nachzeichnen. So ergeben sich Einblicke ins kirchliche Alltagsleben während der ideologischen und organisatorischen Unterdrückung zwischen 1933 und 1945, einem sehr gut erforschten Zeitabschnitt in der Kirchengeschichte auch in Baden.
Gleichgültig, wen man als den wichtigsten Träger der Reformation bewertet, ob Fürstenreformation oder – wie G. D. Dickens es sehen wollte – die Glaubensneuerung als „urban event“, als Magistratsreformation, nie ist bezweifelt worden, dass zwischen ihr und der Intensivierung und Ausweitung der öffentlichen Gewalt ein enger Zusammenhang – genauer – eine Wechselwirkung – bestand: Auf der einen Seite die Schaffung eines lutherischen Kirchenregiments unter Nutzung des politischen Potentials, auf der anderen die Stabilisierung der politischen Macht durch das Obrigkeitsverständnis der Reformatoren; im Ergebnis: Der frühneuzeitliche Obrigkeitsstaat auf dem Fundament eines konfessionell homogenen Untertanenverbandes. Geradezu paradigmatisch wird dies in der Vorrede zur Großen Kirchenordnung des Herzogtums
Württemberg von 1559 zum Ausdruck gebracht: Wie wir uns dann vor Gott schuldig erkennen [… ] wie auch des Gott, der Allmechtig, in seinem gestrengen Urteil von uns erfordern würdet, vor allen dingen unser undergebne Landtschafft mit der reinen Leer des heiligen Evangelii, so den rechten friden des Gewissens bringt unnd die hailsame waid z(o)m ewigen Hail unnd Leben ist, versorgen.
Der offizielle Hurrapatriotismus des Kaiserreichs und die fast einhellige Kriegsbegeisterung im städtischen Bildungsbürgertum, anfängliche Siegesmeldungen von der Front, bald aber auch Nachrichten von vielen Verwundeten und Gefallenen versetzten die Pfarrer in den Heimatgemeinden bereits vom August 1914 an unter einen besonderen Erwartungsdruck ihrer Gemeindeglieder. Die Kriegsstimmung musste aufgenommen werden; bei den meisten Predigern geschah es bis zuletzt mit überzeugtem Nationalismus. Andererseits galt es, Verantwortungsträger zu ermutigen und Leidtragende zu trösten sowie eine Deutung des Geschehens und Weisung zu geben. Die Predigten waren somit meist weniger Bibeltextauslegungen als Thema- oder Mottopredigten, eben „Zeitpredigten“ (Ernst Lehmann). Die älteren Pfarrer an der „Heimatfront“ wurden, trotz immer wieder neuer Mobilmachungsaktionen, durchweg als unabkömmlich eingestuft, jedoch neben ihrem eigentlichen Gemeindedienst als Garnison- oder Lazarettpfarrer eingesetzt. Ihre Kriegspredigten und Kriegsandachten ließen sie oft drucken, damit sie auch ihren Gemeindegliedern im Felde zugesandt werden konnten oder um mit dem Verkaufserlös Hilfsmaßnahmen zu unterstützen.
August 1947: »Es wird beantragt, den Betroffenen in die Gruppe der Hauptschuldigen einzureihen«; Juni 1948: »Der Betroffene ist Belasteter«; Juni 1949: »Der Betroffene ist Minderbelasteter«. Was war das für ein Trümmerfeld, in das
Ferdinand Ostertag 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte: Deutschland, zugrunde gerichtet von ihm
und seinesgleichen. In seiner eigenen Wahrnehmung hatte er alles erdenkliche Gute für dieses Land getan. Das Bild, das er von sich selbst zeichnete, zeigt einen fortschrittlichen, pflichtbewussten, korrekten, fairen, selbstlosen Mann, einen Diener des Gemeinwohls. Und eben Deutschlands. Um das er sich besonders in der Stadt bemühte, in die sein Lebensweg ihn geführt hatte – in Ludwigsburg: als Direktor der Bausparkasse GdF Wüstenrot, als Fraktionsvorsitzender der NSDAP im Gemeinderat, als ehrenamtlicher Bürgermeister.
Der im Schwarzwald geborene Erwin Mülhaupt (1905‒1996) hat von seinen mehr als 90 Lebensjahren, von kurzen vorübergehenden Arbeitsaufträgen vorher und nachher abgesehen, nur zehn Jahre, und zwar von 1933 bis 1943, als Pfarrer in einer Gemeinde verbracht: als Pfarrer des Kirchspiels Haag im Kirchenbezirk Neckargemünd mit den drei Filialen Schönbrunn, Moosbrunn und Allemühl und mit drei Kirchen. Mehr als doppelt so lange, nämlich 21 Jahre, von 1949 bis 1970, war Mülhaupt Professor für Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Es liegen drei verschieden lange autobiographische Texte von ihm vor: ein kurzer von 1949, verfasst zum Dienstantritt in Wuppertal; ein langer von 1975 als Rückblick auf 50 Jahre theologische Existenz; und ein aus Anlass der Diamantenen Hochzeit geschriebener von 1993.
Der Stern des Ulrich Zasius verbreitet am deutschen Juristenhimmel des
16. Jahrhunderts einen solchen Glanz, daß sich das Auge des rechtsgeschichtlichen
Betrachters immer und nur immer wieder auf ihn richtete, während
anderen das Urteil der Zweitrangigkeit gesprochen wurde. Einer dieser Gelehrten,
deren Licht im unmittelbaren Umkreis des Meisters verblaßte, ist
dessen Schüler und späterer Kollege
Theobald Bapst. Doch gerade seine
Persönlichkeit, deren symphatische äußere
Züge uns aus einem zeitgenössischen
Porträt bekannt sind, gestattet,
mit dem charaktervollen Typ des
oberrheinischen Rechtsgelehrten bekannt
zu werden, ohne die Überzeichnung
eines Genies hinnehmen zu müssen.
Bapsts Leben und Wirken fällt in
eine Zeit, die am Vordringen des gelehrten
Rechts und an der Entstehung
des Juristenstandes in Deutschland
entscheidend Anteil hat, und in seiner
Generation zeigen sich die Früchte der
humanistischen Reformjuristen, aber
auch die Resignation der Praxis und
das Zugeständnis an den Rechtsalltag.
Am Sonntag, den 31. Oktober 1909, morgens um 11 Uhr, also am Reformationstag und also fünf Jahre vor Ausbruch des Ersten und 30 Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bot sich in der Heidelberger Peterskirche ein merkwürdiges und zugleich bedrückendes Schauspiel: der akademische Trauergottesdienst für die Theologen Adolf Hausrath († 2. August), Adalbert Merx († 4. August) und Heinrich Bassermann († 29. August). Mit ihnen verabschiedete sich ein erheblicher Teil der prägenden Theologen, die nach der Krise der Fakultät in den 1870er Jahren den liberalen Ruf der Heidelberger Theologie hatten begründen helfen; liberal und fürstlich hochdekoriert, und (insbesondere Hausrath) von einer preußenkritischen zu einer propreußisch-nationalen Option sich durchringend. Vor allem Bassermann und Hausrath gehörten dabei durch Geburt oder Heirat Milieus an, die mit Kriegsbeginn zerbrachen. Die nationalliberale Bindung war das eine, die am Handel orientierte und kosmopolitische Herkunft ein anderes. Man denke nur – jetzt erneut Hausrath als Beispiel genommen
– an die Familienbeziehungen des Theologen zu den Familien Weber oder auch Baumgarten. Nun war Max Weber kein Theologe und der mit ihm verbundene Ernst Troeltsch Theologe nur bis 1915, und der dem gleichen Dunstkreis entsprungene badische Theologe Otto Baumgarten – auch er sprach 1915 vom Krieg als Erneuerung und Wiedergeburt des deutschen Volkes – wirkte in Kiel. Das vielleicht aufreizende „name dropping“ soll ein methodisches Problem spiegeln, nämlich: Auch die im Folgenden zu nennenden Heidelberger Theologen standen als Individuen in weiten und weiteren Kontexten, die keineswegs innerhalb des Vortrags erhellt werden können. Und sie standen in Kontexten, die wohl wirkmächtiger waren als das Biotop Theologische Fakultät.
J. B. Kißling schreibt in seiner Geschichte des Kulturkampfes: „In der Schulfrage dachte der badische Liberalismus bereits im Jahre 1831 daran, die Schule von der Kirche zu ‚emanzipieren‘, der Antrag fand aber nur in der Zweiten Kammer eine
Majorität.“ Die Regierung habe an der „durch Geistliche geübten Schulaufsicht“ festgehalten. Die freie Schule war ein altes Ideal der Liberalen, während Erzbischof und Regierung am traditionellen Ideal des vertrauensvollen Zusammenwirkens von
Staat und Kirche festhielten. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten „zu einer Aktivierung des Katholizismus“ war der Freiburger Staatswissenschaftler Prof. Franz Joseph Buß. Er wandte sich „gegen Staatskirchentum und alle liberalen und nationalkirchlichen Tendenzen“. Zuerst in Baden entstanden seit 1844 katholische Vereine, 1846 gab es hier die erste „Massenpetition“ gegen die „Deutschkatholiken“, es entstand der „Ultramontanismus als antiliberale Massen-Opposition.
Ebenfalls 1846 hat der Heidelberger Professor der Rechte und Abgeordnete der Zweiten Kammer C.J.A. Mittermaier
„die Lösung der Schule von der Geistlichkeit und der Kirche“ erneut gefordert. „Die Bewegung des Jahres 1848 griff auch auf die beiden großen Glaubensgemeinschaften über“, in der Zweiten Kammer wurde die „Kommunalschule, welche für alle Konfessionen gemeinschaftlich und dem Einfluß der Kirche entzogen sein sollte“ gefordert.
Der Hurrapatriotismus des Kaiserreichs und die fast einhellige Kriegsbegeisterung, anfängliche Siegesmeldungen von der Front, bald aber Nachrichten von Verwundeten und Gefallenen versetzten die Pfarrer in den Heimatgemeinden vom August 1914 an unter einen besonderen Erwartungsdruck ihrer Gemeindeglieder. Die Kriegsbegeisterung im Volk musste aufgenommen werden; bei den meisten Predigern geschah es aus Überzeugung. Andererseits galt es zu ermutigen und zu trösten, eine Deutung des Geschehens und Weisung zu bieten. Die Predigten waren somit meistens weniger Text- als Thema- oder Mottopredigten. Die älteren Pfarrer an der „Heimatfront“ wurden, trotz immer wieder neuer Mobilmachungsaktionen, entweder als unabkömmlich eingestuft oder neben ihrem eigentlichen Gemeindedienst als Garnison- oder Lazarettpfarrer eingesetzt. Ihre Kriegspredigten und Kriegsandachten ließen sie oft drucken, damit sie auch ihren Gemeindegliedern im Felde zugesandt werden konnten oder um mit dem Erlös des Druckschriftenverkaufs Hilfsmaßnahmen zu unterstützen.