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800 Jahre Ziegelhausen
(2021)
Die erste urkundliche Erwähnung eines Gemeinwesens ist ein wichtiges Datum, doch es sagt nicht viel über die Lebensgrundlagen der Menschen von damals aus. In einer Rückschau fragen wir, was die Natur in einer bergigen, waldbestandenen Landschaft, durch die sich ein Fluss hindurchgegraben hat, den Menschen zum Leben bietet. Bodengegebenheiten, Klima und Bewuchs sind gewiss die natürlichen Voraussetzungen für menschliche Existenz, doch darf die menschliche Kreativität bei der Ressourcenerschließung nicht unterschätzt werden. Die Ziegelhäuser Gegend war Teil der Urgemarkung Handschuhsheim. Diese umfasste das Gebiet an der Bergstraße südlich Dossenheims bis zum Neckar und ostwärts bis zu den Höhenzügen vor dem Steinachtal. Nach dem siebten Jahrhundert löste sich Neuenheim davon ab. Deren Gemarkung reichte den Neckar aufwärts bis zu dem noch nicht namentlich bekannten Ziegelhausen.
„Mensch, höre meine Worte: kämpfe und vertraue!“ Blickt man auf die Geschichte der knapp ein halbes Jahrhundert in Heidelberg beheimateten und damals fest im kulturellen Erlebnisraum der Stadtgesellschaft verankerten Familie Romhányi, ist es dieser Schlussvers aus dem von Goethes „Faust“ beeinflussten und berühmten Werk „Die Tragödie des Menschen“ des ungarischen Dichters und Dramatikers Imre Madách (1823–1864), welches sich als mögliches Credo dieser Familie betrachten ließe. Es war die Liebe zu den Künsten, welche den Juden Jenő Reich und die Christin Erna Sauer, zwei Menschen ungleicher nationaler, ethnischer, sprachlicher sowie religiöser Zugehörigkeit, zusammenführte. Ihre Verbindung sollte durch die Vermählung 1910 und die damit verbundene Konversion Jenős bekräftigt werden. Es folgten Jahre der familiären Harmonie und des beruflichen Erfolgs an ihrem neugewählten Lebensmittelpunkt in der Universitätsstadt am Neckar. Über 23 Jahre hinweg konsolidierte die Familie in Heidelberg ihre auf viel Geschick und Fleiß beruhende Stellung als erfolgreiche Unternehmer – zunächst in der Möbelfabrikation, später in der Kino-Branche – bis sie schließlich 1933 nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Zuge der systematischen Zwangsenteignungen und Verdrängung jüdischer Bürger aus dem deutschen Wirtschaftsleben sowie des gezielten Boykotts ihrer Geschäfte („Arisierung“) schlagartig der gewohnten Lebenswelt entrissen wurden. Knapp ein ganzes Jahrzehnt war die kleine, zwischenzeitlich auseinandergerissene und sich erst 1935 in Romhányi umbenannte Familie den nicht enden wollenden Verfolgungen und Repressalien des NS-Regimes ausgesetzt. Diesem Druck konnte sie letzten Endes nicht mehr standhalten. Es folgte die unwiderrufliche Ausweisung nach Ungarn im Frühjahr 1943, welche im tragischen Höhepunkt jener verhängnisvollen Jahre endete, dem durch das Zwangsexil verursachten, gewaltsamen Verlust der beiden Söhne Rudolf und Ludo. Doch auch der Lebensabend des Ehepaares Romhányi, welches das Kriegsende in Budapest erlebte, sollte im Deutschland der Nachkriegszeit von abermaligen Schwierigkeiten und Konflikten nicht verschont bleiben.
Julius Wilhelm Zincgref
(2021)
In allgemeinen Darstellungen zum Dreißigjährigen Krieg kommt der als Herausgeber der Werke von Martin Opitz bekannte Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635) allenfalls als Dichter und Kommentator, nicht aber als Verteidiger Heidelbergs gegen Tillys Liga-Armee vor. Und auch in den allgemeinen Darstellungen zu Heidelberg im Dreißigjährigen Krieg wird Zincgref nur am Rande oder gar nicht erwähnt. Hier soll anlässlich der Wiederkehr der Eroberung und Verwüstung der Stadt vor 400 Jahren Zincgref vorgestellt werden – in seiner Doppelrolle als militanter Calvinist einerseits und als Dichter und damit auch Reflektant seiner Zeit andererseits. Sein „Kriegslied“ „Vermanung zur Dapfferkeit“ soll hier näher betrachtet und als Quelle zur Eroberung Heidelbergs gelesen werden, wenn auch der genaue Zeitpunkt der Entstehung des Textes nach wie vor diskutiert wird. Gleichzeitig versteht sich der Beitrag als ereignisgeschichtliche Synthese zur Belagerung und Einnahme Heidelbergs durch Tillys Liga-Armee im September 1622.
„Herr Regierungsbaumeister Nathan hat die an ihn gestellte Aufgabe, einen modernen Bau mit allen praktischen, gesunden Einrichtungen versehen zu erstellen, glänzend gelöst.“ Nach der Einweihung der Zigarrenfabrik Hochherr am 9. September 1929 war die Süddeutsche Tabakzeitung voll des Lobes über das Gebäude, das in der Kaiserstraße 78 am damaligen Rand der Weststadt erstellt worden war. Es ersetzte den zehn Jahre zuvor bezogenen Firmensitz in der Brückenstraße 51 in Neuenheim. Auch der Heidelberger General-Anzeiger zeigte sich vom Neubau beeindruckt und hob in seinem Bericht hervor, dass „hier der Geschmack eines modern empfindenden Architekten und der künstlerische Wille einer Fabrikleitung Hand in Hand eine
gediegene Ausdrucksform für den Bau gefunden und gleichzeitig eine reizvolle städtebauliche Aufgabe gelöst haben“.
Wien - Shanghai - Heidelberg
(2021)
Als auffälliger Außenseiter war er in den 1950er- bis in die 1970er-Jahre hinein Teil des Heidelberger Stadtbildes, sichtbar vor allem am Bismarckplatz vor den damaligen Arkaden: eine hagere Gestalt, nach vorne gebeugt, nach links gekrümmt, in einen langen schäbigen Mantel gehüllt, einen Packen Zeitungen oder Zeitschriften unter dem Arm. Wollte er diese wirklich verkaufen oder eher Almosen erbetteln? Aus seinem mühevollen langsamen Gang schreckte er nur dann auf, wenn ihn Jugendliche mit dem Wort „Stürmer“ verspotteten. Er drohte ihnen und versuchte vergeblich, sie zu verfolgen, ohne sie je zu erreichen. Ältere Heidelbergerinnen und Heidelberger erinnern sich wohl – wie ich – an diesen bedauernswerten Mann; manche haben durch Erzählungen von ihm gehört. Wenig wusste man von ihm, auch sein Name war nicht bekannt. Hieß er wirklich Jakob, oder war dies nur ein Spottname? Nur wenige schriftliche Zeugnisse erwähnen ihn.
Die Vier ist eine halbe Acht
(2021)
Heute steht der Bildstock (347 × 47,5 × 29,5 cm) am westlichen Anfang der Kleingemünder Straße (früher: Hauptstraße). Mit großen, altertümlichen Zahlen gibt er das Jahr seiner Entstehung inschriftlich bekannt: 1478, wobei die zweite Zahl Vier in Form einer halben Acht zu lesen ist; die dritte Zahl in Form eines offenen Dreiecks ist eine damals übliche Sieben, nach links gekippt. Von den stilistischen Eigenheiten der spätgotischen Skulptur des 15. Jahrhunderts ist kaum etwas zu erahnen, was nicht nur durch die wechselhafte Geschichte des Objekts, sondern wohl auch der einfachen künstlerischen Qualität des Bildhauers geschuldet sein dürfte.
Das Leben der Kamilla Knopf
(2021)
Kamilla Knopf (1911−1996) ist mutmaßlich die erste Frau aus Dielheim, einer Gemeinde im südlichen Rhein-Neckar-Kreis, die das Abitur machte. Sie studierte in England und unterrichtete nach dem 2. Weltkrieg an der Universität Heidelberg viele Generationen angehender Gymnasiallehrer in englischer Phonetik und Literatur, Übersetzung und Sprechtraining im Sprachlabor. Am 22. Januar 2021 wäre sie 110 Jahre alt geworden. Nach einem Aufruf in der Rhein-Neckar-Zeitung meldeten sich Dutzende von Zeitzeugen, die zur Vita dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit etwas beizutragen hatten.
Die Ereignisse vom 9. und 10. November 1938 sind für Heidelberg grundsätzlich gut erforscht und wurden oft dargestellt: die Brandstiftungen in den Synagogen der Altstadt und in Rohrbach, die Verschleppung der erwachsenen Männer nach Dachau oder in andere Konzentrationslager und die marodierenden Aktionen der SA-Trupps gegen Geschäfte und Wohnungen in den Stadtteilen. Die hier vorgestellte Studie setzt sich damit auseinander, ob das Novemberpogrom über die massiven Angriffe auf die Unverletzlichkeit der Wohnungen hinaus auch Entmietungen einschloss und welche Rolle dabei die städtische Wohnungsbaugesellschaft für Grund- und Hausbesitz (GGH) einnahm. Ausgangspunkt dieser Fragestellung ist die Beobachtung, dass von den sechs 1938 noch in GGH-Häusern lebenden jüdischen Mietparteien im Folgejahr alle ihre Wohnung dort verloren hatten. Diese Beobachtung wirft die weitere Frage auf, ob die Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Carl Neinhaus nicht doch tiefer in das Novemberpogrom eingebunden war. Bisher war nur bekannt, dass Neinhaus am Morgen des 10. November vom Dienstwagen aus das Brandgeschehen in der Großen Mantelgasse in Augenschein nahm.
„Das ist nun Heidelberg, und es ist wirklich schön dort im Frühling“, schrieb der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht in den neunziger Jahren in seinem Roman „Faserland“. Alles sei so schön grün, die Menschen säßen in der Sonne an den Neckarauen, erzählt Krachts Protagonist. Und er stellt fest: „So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte.“ Es stimmt ja: Im Heidelberger Stadtbild hat der Zweite Weltkrieg kaum Spuren hinterlassen. Im Unterschied zu vielen anderen Städten wurde Heidelberg nicht in Schutt und Asche gelegt. Über die Gründe, warum das so ist, wird immer wieder diskutiert. Und besonders die Frage, ob die Amerikaner über der Stadt Flugblätter abwarfen mit der Aufschrift „Heidelberg wollen wir schonen, denn dort wollen wir wohnen“, polarisiert. Viele Zeitzeugen berichten davon, einen historisch-wissenschaftlichen Beleg aber gibt es (noch) nicht. Was aber sicher ist: Auch Heidelberg blieb von Luftangriffen nicht völlig verschont, wie der folgende Überblick über die Schäden, die der Krieg in
dieser Stadt angerichtet hat, zeigt.
Carl Gustav Jochmann hielt sich nach Beendigung seiner Anwaltstätigkeit in Riga in den Jahren 1819 bis 1829 mehrfach, auch für längere Zeit, in Heidelberg auf, wo er in den Jahren 1806/1808 Jurisprudenz studiert hatte. Außer seinem Verleger Christian Friedrich Winter werden nur wenige seiner Heidelberger Freunde und Bekannten gewusst haben, dass der privatisierende Jurist als Schriftsteller tätig war und bedeutende kulturphilosophische und zeitkritische Werke verfasste. Jochman legte größten Wert darauf, als Autor unbekannt zu bleiben; alle seine Schriften erschienen anonym. Sein Beharren auf „Verborgenheit“ mag der entscheidende Grund dafür sein, dass man über seine Kontakte in Heidelberg nicht sehr viel weiß, obwohl einige seiner Bekannten, so der schottische Kaufmann James Mitchell und der Bankier und Fabrikant Christian Adam Fries im gesellschaftlichen Leben der Stadt eine wichtige Rolle gespielt haben. Auch ob sein Freund Christian Friedrich Winter, in dessen Verlag drei der vier Bücher Jochmanns erschienen sind, das Geheimnis um seinen anonymen Autor wahren konnte, ist nicht bekannt.
Ein Name als Programm
(2021)
Wir feiern heute den 100. Namenstag des Kurpfälzischen Museums Heidelberg, eines Hauses, das heute zum Kunst- und Kulturleben der Stadt Heidelberg ganz selbstverständlich dazu gehört. Ganz selbstverständlich gehen wir heute ins „Kurpfälzische“ Museum. Dabei ist vermutlich nur den wenigsten der vielen tausend Touristen und Heidelberger Stammgästen, die das Palais Morass über den stimmungsvollen Innenhof oder gar den Neubau betreten, bewusst, dass diese Bezeichnung eigentlich keineswegs selbstverständlich ist und dass hinter dem Namen „Kurpfälzisches Museum“ ein museumspolitisches Gesamtkonzept steht, das auf den ersten hauptamtlichen Leiter der Einrichtung Karl Lohmeyer zurückgeht – einen Mann, der zu Unrecht heute in Heidelberg weitgehend in Vergessenheit geraten ist.
Tabakanbau und Tabakverarbeitung waren seit dem 19. Jahrhundert und bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts gerade für die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Baden und in der Südpfalz ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. Heidelberg entwickelte sich dabei zu einem der wichtigsten Standorte der Tabakverarbeitung in Nordbaden und besaß mit den Firmen Landfried, Liebhold und Maier zu Beginn des 20. Jahrhunderts die drei größten Fabriken in Nordbaden. Sie waren alle drei originäre Heidelberger Betriebe, die um die Jahrhundertwende in Bergheim neue Produktionsstätten erbauten. In Zusammenhang mit dem Artikel von Andreas Schenk in diesem Jahrbuch über den Architekten Fritz Nathan behandelt dieser Beitrag die Geschichte der Firma Hochherr in der Kaiserstraße 78 und deren „Arisierung“ in Heidelberg.
Ursprünglich sollte im Kurpfälzischen Museum Heidelberg (KMH) vom 25. März bis 12. Juli 2020 die Sonderausstellung über die Figur und den Mythos des Herkules zu sehen sein. Covid-19-Krise und erster Lockdown durchkreuzten unerwartet diesen Plan. Die Ausstellungseröffnung wurde verschoben, die Wartezeit mit Digitalem überbrückt. Online gestellte Kurzfilme zu den schönsten Exponaten und Interviews mit den beiden Kuratorinnen – der Kunsthistorikerin Karin Tebbe und der Archäologin Renate Ludwig – sowie mit dem Museumsdirektor Frieder Hepp vermittelten zwar interessante Einblicke in die Ausstellung, waren aber kein gleichwertiger Ersatz. Ab dem 6. Mai durfte man endlich, strengen Hygienerichtlinien folgend und mit Maske, die Ausstellung besuchen, die glücklicherweise bis zum 20. September verlängert werden konnte. Wegen der Virengefahr zwischenzeitlich geschlossene Grenzen hatten die Ankunft bedeutender Leihgaben aus italienischen Museen verhindert, die bei der großen Herkulesausstellung („Ercole e il suo mito“) in Turin 2018/19 zu sehen gewesen waren. Mittels Reproduktionen und Fotografien versuchten die Kuratorinnen diesem Manko entgegenzuwirken, auf einen Ausstellungskatalog musste jedoch verzichtet werden.
Camilla Jellinek
(2021)
Vier Straßen in einer der schönsten Wohngegenden Heidelbergs tragen die Namen preußischer Generäle aus dem Deutsch-Französischen Krieg: Leonhard Blumenthal, August Werder, Albrecht von Roon und Helmuth von Moltke. Seit den zwanziger Jahren lebten in diesen Straßen mit den martialischen Namen aber auch Heidelberger Bürgerinnen, deren Andenken gewahrt werden sollte: In der Moltkestraße praktizierte die beliebte Kinderärztin Johanna Geißmar, unter dem Druck des nationalsozialistischen Boykotts zog sie 1935 nach Saig im
Schwarzwald, von dort wurde sie im Oktober 1940 nach Gurs deportiert – 1942 wurde Johanna Geißmar in Auschwitz ermordet. Die Psychoanalytikerin Frieda Fromm-Reichmann eröffnete 1923 Ecke Werderstraße ihr „Therapeuticum“, 1933 floh sie nach Palästina, später emigrierte sie in die USA. In der Werderstraße wohnten Paula und Salomon Deutsch mit ihren Kindern. Es gelang ihnen, die Kinder ins Ausland zu retten, sie selbst wurden 1940 nach Ungarn abgeschoben; 1944/45 wurden Paula Deutsch und ihr Mann Salomon in Auschwitz ermordet. In der Roonstraße fand die Modedirectrice Frieda Mayer kurzfristig Zuflucht im Haus von Ida Rothschild bis diese 1939 zur Ausreise gezwungen wurde. Auch Frieda Mayer wurde 1940 nach Gurs deportiert. Im „Judenhaus“ in der Moltkestraße lebten seit 1939 die Schwestern Clara und Anna Hamburger. Beide gehörten zu den ersten Doktorandinnen der Ruperto Carola, in den zwanziger Jahren finanzierten sie mit ihrem geringen Gehalt studentische Freitische und Stipendien. Am 22. Oktober 1940 wurden Anna und Clara Hamburger nach Gurs deportiert, gemeinsam mit der pazifistischen Literaturwissenschaftlerin Elise Dosenheimer aus der Blumenthalstraße. In der Moltkestraße wurde am 10. April 1942 Violetta von Waldberg von der Gestapo in den Tod getrieben. Das Ehepaar Waldberg hatte
seine wertvolle Bibliothek in den dreißiger Jahren der Universität geschenkt – die Bücher gehören noch heute zu den wertvollsten der Universitätsbibliothek. Im Nachbarhaus starb am 5. Oktober 1940 Camilla Jellinek, die fünfzig Jahre lang in Heidelberg lebte und mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit das rechtliche und soziale Leben über die Grenzen Heidelbergs hinaus prägte.
Am 20. Juni 1939 erhielt die 81-jährige Professorenwitwe Anna Samuely eine Mitteilung der Heidelberger Stadtverwaltung, in der sie aufgefordert wurde, unverzüglich alle Gegenstände aus Gold und Silber sowie Brillantschmuck, Uhren, Bestecke, Vasen und Münzen von erkennbarem Wert beim städtischen Leihamt abzuliefern. Ihre Wertsachen würden dort amtlich geschätzt werden. Sie erhalte den Taxpreis abzüglich einer Bearbeitungsgebühr. Frau Samuely wusste, was das bedeutete. Die Aktion hatte im Februar begonnen, ein Großteil ihrer jüdischen Bekannten war schon zur Ablieferung vorgeladen worden. Sie wusste auch, dass mittlerweile die taxierten Beträge nicht mehr ausgezahlt, sondern auf ein Sperrkonto gelegt wurden. Sie hatte erfahren, dass Heidelberger Schmuck- und Uhrenhändler, zu deren Kundschaft sie auch gehört hatte, sich im Rathaus zu Auktionen versammelten, um die abgelieferten Wertsachen günstig zu ersteigern. Frau Samuely wurde Opfer einer dreisten staatlichen Raubaktion.
Auf den ersten Blick ist es ein kleiner, bescheidener Briefwechsel. Eine Mutter bedankt sich bei einer ihr unbekannten Familie, dass diese den Sohn aufgenommen hat. Sie freut sich über jede positive Nachricht. Ihre Wünsche und Hoffnungen sind größer als das wirkliche Wissen, das sie aus den kindlichen Erzählungen ihres nicht sonderlich schreibfreudigen Sohnes erfährt. Sie „promotet“ ihren Sohn und seine Schwester, in der inständigen Hoffnung, dass ihre Kinder gut aufgehoben sind. Betrachten wir die Umstände, gewinnen die scheinbar harmlosen Zeilen an dramatischem Gewicht.
Wir dokumentieren und kommentieren vier Briefe des Heidelberger Volksschullehrers Hermann Durlacher und seiner Frau Mart(h)a aus den Jahren 1939, 1941 und 1942, also aus den Jahren der Verfolgung und Deportation der jüdischen Einwohner. Das Ehepaar Durlacher hatte 1923 in Heidelberg geheiratet, wo Hermann Durlacher seit 1920 als Lehrer an der städtischen Volksschule Ecke Plöck/Sandgasse unterrichtete. Martha Durlacher, in Radovesnice geboren, stammte aus einer tschechischen Familie. Dies erklärt die Hinweise in den Briefen auf Verwandte in Jihlava (Iglau) an der böhmisch-mährischen Grenze und Kuthna Hora in Böhmen. Durlachers hatten zwei Söhne, Walter (geb. 1924) und Lutz (geb. 1927), die sie
am 26. Juli 1939 mit einem Kindertransport nach England schicken konnten. Familie Durlacher wohnte, wie zeitweilig auch Marthas Schwester Anni Arnold und ihr nichtjüdischer Mann Friedrich (Fritz) in der Hauptstraße 121. Fritz Arnold hatte 1939 seine Frau Anni davon überzeugt, dass sie sich in England in Sicherheit bringen müsse. Nicht zuletzt fürchtete er, keine Anstellung als Bankangestellter mehr zu erhalten. In den Kriegsjahren ließ er sich von seiner Frau scheiden, ohne diese darüber zu informieren, und gründete eine neue Familie. Vor vollendete Tatsachen gestellt, verließ Anni Arnold Deutschland, nach einem ersten und einzigen Besuch 1945, erneut und kehrte nach Großbritannien zurück, wo sie Kontakt zu Ludwig (Lutz), dem jüngeren Sohn der Durlachers hatte.
In der Woche nach dem dritten Advent des Jahres 1931 dominierte ein Thema die Schlagzeilen der badischen Regionalpresse: Eine größere Abordnung der Landespolizei hatte in den Nachmittagsstunden des 13. Dezember das Schloss Rotenberg durchsucht, wo sich etwa 40 Personen auf Einladung des Schlossherrn, des kaiserlichen Gesandten a. D. Franz von Reichenau zusammengefunden hatten.
100 Jahre Pfaffengrund
(2021)
Heidelbergs historisches Stadtbild, das von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs weitgehend verschont wurde, lockt jedes Jahr Millionen Besucher*innen an. Die Stadt ist durch ihre historischen Gebäude nicht nur malerisch schön; anhand der Gebäude können Besucher*innen auch Einblicke in die wechselvolle und spannende Stadtgeschichte Heidelbergs nehmen. Diese Faszination für das historische Stadtbild und die Geschichte Heidelbergs zeigt sich nicht zuletzt an dem großen Interesse an geführten Stadttouren, die sich vor der Corona-Pandemie einer stetig größer werdenden Beliebtheit erfreuten. Umso erstaunlicher ist es, dass Heidelberg bis dato kaum digitale Angebote entwickelt hat, damit Besucher*innen die Stadt und ihre Geschichte auf eigene Faust erkunden können. Andere Städte haben den digitalen Raum längst als „Erweiterung“ des Stadtraums entdeckt, um darin ihre Geschichte zu erzählen. So hat beispielsweise das Landesamt für Denkmalpflege in Bremen bereits 2006 über 150 QR-Codes in der Stadt verteilt, die Interessierten per Smartphone auf Webseiten leitet, auf denen sie sich in kurzen Texten über die Bremer (Bau-)Geschichte informieren können. Wie ließe sich Heidelberger Stadtgeschichte mithilfe digitaler Technik so erzählen, dass Einwohner*innen und Besucher*innen sie in einem Stadtspaziergang selbst erkunden können? Dieser Frage wollten wir, drei Geschichtsstudierende an der Universität Heidelberg, nachgehen. Gefördert von der Stadt-Heidelberg-Stiftung arbeiteten wir im Frühjahr und Sommer 2020 an dem Projekt, einen digital
unterstützten „Spaziergang durch die Stadtgeschichte“ zu entwickeln. Mit diesem Werkstattbericht möchten wir über die Umsetzung dieses Projekts informieren.
Friedrich III. als Bauherr
(2021)
Der Theologieprofessor Viktorin Strigel (1524−1569) wurde in der Nacht auf den 9. April 1569 Zeuge eines Brands auf dem Heidelberger Schloss. Es war die Nacht vor Karfreitag. Eine Woche darauf schildert er in einem Brief die Bedrohlichkeit des Ereignisses: „Neulich brach am 8. April auf der Burg des vornehmsten pfälzischen Kurfürsten [Friedrich III., 1515−1576, reg. 1559−1576] ein gewaltiges Feuer aus. Weil es von der ersten Nachtstunde bis zum Sonnenaufgang gedauert hatte, vernichtete es das hervorragende Gebäude, das zwischen zwei Gemächern liegt, von denen in einem der beste und würdigste Kurfürst zu wohnen pflegt, das andre der frisch verheiratete Landgraf von Hessen Philipp [II., 1541−1583] mit der Tochter des Kurfürsten [Anna Elisabeth, 1549−1609] bewohnt. Aber wenn der gegenwärtige Gott uns nicht seine Hilfe gewährt hätte, wäre es nicht nur um die Burg, sondern um die ganze Stadt geschehen gewesen. Denn schon flogen die Funken über die Dächer der Bürger, und die Kraft der Flammen war in den höchsten Turm vorgedrungen, in dem die Verwaltung des Fürsten oder die Kanzlei, wie sie sagen, untergebracht ist. Aber auch wenn dieser Brand den Zuschauern mehr Schrecken einjagte als tatsächlichen Schaden verursachte, ängstigt mich das Vorzeichen sehr und beunruhigt mich.“ 2020 erreichte den Geschichtsverein von der Forschungsstelle „Theologenbriefwechsel im Südwesten des Reichs in der Frühen Neuzeit (1550−1620)“ an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften die Anfrage, was über dieses Brandereignis bekannt sei; Strigels Brief werde dort bearbeitet und zur Veröffentlichung vorbereitet. Bei der Recherche fand sich ein Schreiben des Kurfürsten an Johann Wilhelm von Sachsen [1530−1573] vom Mai 1569, das diesen Brand ebenfalls beschreibt und bereits 1905 veröffentlicht wurde. Beim Abgleich der neu gefundenen mit der vor einem Jahrhundert publizierten Quelle ergaben sich weitere Fragen: 1. Lässt sich der Brand vom Karfreitag 1569 verorten? Welches Gebäude war betroffen? 2. In welchem Verhältnis steht der Brand zur Hochzeit Friedrichs zwei Wochen darauf? 3. Wie ist der angekündigte Neubau zu verstehen? War Friedrich doch Schlossbauherr?