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„Im Jahre 1940“, so schrieb die Heidelbergerin Marie Baum (1874-1964) aus dem Rückblick von 1952, „traf die Juden als erste eines größeren Bezirkes die Austreibung in ein unbekanntes Schicksal; sie wurden in das in den Pyrenäen im damals noch unbesetzten Frankreich gelegene Lager Gurs verbracht, einer Unterkunft von übelster Beschaffenheit.'“ „Übelste Beschaffenheit“ - das klingt noch sehr maßvoll, geradezu euphemistisch, wenn man sich die Bedingungen vor Augen führt, in die sich die über 6.500 badischen und pfälzischen Juden, darunter etwa 400 aus Heidelberg und Umgebung, in Gurs einfinden mussten. Das Lager, einige Jahre zuvor zur Internierung republikanischer Kämpfer des spanischen Bürgerkriegs errichtet, bestand aus hunderten von Baracken hinter Stacheldraht und versank im Schlamm, Familien wurden durch die strenge Aufteilung in Frauen und Männer getrennt. Im harten Winter 1940/41 starben bereits viele der aus Baden Kommenden, meistens ältere Menschen: Wer eine Zukunftsperspektive anderswo gesehen hatte, war meist schon vor Oktober 1940 emigriert. Doch trotz der vielen Toten pro Tag in Gurs, trotz der späteren Transporte in die Vernichtung nach Osten: Etwa ein Viertel der badischen Juden hatte die Chance, Gurs zu überleben, durch Flucht, durch Auswanderung noch aus Frankreich in andere Länder. Aber das konnte in Heidelberg am 22. Oktober 1940 niemand wissen, als in den frühen Morgenstunden Polizisten an den Wohnungstüren jüdischer Einwohner klingelten und die Nachricht überbrachten, man habe sich innerhalb einer oder zweier Stunden mit wenig Gepäck am Bahnhof einzufinden. Auch Maximilian (1877-1940) und Zilla Neu, geb. Baruch (1885-1940) wussten es nicht, und zu Illusionen hatten sie keinen Anlass. Sie handelten entschlossen. Wahrscheinlich hatten sie kaum Zeit, auf die eigene Geschichte zurückzublicken.
Zu Beginn der 1980er Jahre bat mich ein befreundeter Antiquar, Reproduktionen von Bildern aus einer Mappe zu machen, die er bei einer Auktion ersteigert hatte. Die Blätter der Mappe wurden anschließend einzeln verkauft. Erst kürzlich stieß ich in meinem Archiv wieder auf diese Dias, die heute der einzige Beleg für den Inhalt der vollständigen Mappe sind. Es handelte sich um 74 kolorierte Bilder von Philibert de Graimberg, dem Sohn des in Heidelberg gut bekannten Kunstsammlers, Zeichners und so genannten ,Retters der Schlossruine‘, Graf Charles de Graimberg-Belleau (1774-1864).
Vater Graimberg war 1810 als französischer Emigrant nach Heidelberg gekommen und hat durch sein Engagement und seine eigenen Bilder verhindert, dass diese Ruine vollends zum Steinbruch verkam. Durch seine zahlreichen Detailzeichnungen, die er vervielfältigte und in seinem am Kornmarkt gelegenen Cabinett ausstellte, trug er zum Ruhme Heidelbergs und der Schlossruine wesentlich bei. Die Romantik tat ein Übriges. Man muss all die Namen derer nicht nennen, die durch Gedichte, Gemälde und Erzählungen Anteil hatten an dieser Strömung. Seltsamerweise gibt es über Philibert de Graimberg kaum Nachrichten. Sein Name ist bekannt, aber man weiß im Allgemeinen wenig über ihn, obwohl er eine große Anzahl Veduten der Stadt und ihrer Umgebung angefertigt hat: Weinheim in malerischen Darstellungen, Reiseberichte aus der Pfalz und dem Neckartal.
Sühne für die Schuld Europas
(2011)
„Die Heidelberger Universität war die erste, auf welche ein Jude (Spinoza) als Professor der Philosophie berufen worden; sie war die erste, auf welcher ein Lehrstuhl für Natur- und Völkerrecht (für Pufendorf) errichtet wurde; möge ihre hochwürdige theologische Fakultät die Erste seyn, welche durch Ertheilung der Doctorwürde an einen, dem in Nordamerika mishandelten und verachteten Menschenstamm Angehörigen, dazu beiträgt, eine, wider Natur- und Völkerrecht an diesem Stamm von Europa verwirkte Schuld zu sühnen!“ Diese Bitte richtete Friedrich Wilhelm Carove, ein freisinniger katholischer Schriftsteller, am 17. November 1849 für James William Charles Pennington an die Theologische Fakultät der Universität Heidelberg.
Am 1. August 1859 starb Johann (oder Hans) Lorenz Küchler in seinem 51. Lebensjahr in Nidau (Schweiz) an einem Schlaganfall. Der Heidelberger Anwalt war Mitbegründer und Vorstand sowohl der Deutsch katholischen Gemeinde als auch des Turnvereins, des Gewerbevereins und des Kreditvereins in Heidelberg gewesen. Als mutiger Verteidiger von Aufständischen vor dem Mannheimer Standgericht 1849 war er überregional bekannt geworden. Sein Freund Jakob Venedey verfasste sogar eine Biografie, die bald nach Küchlers Tod erschien. Das war eine Würdigung, wie sie keinem anderen Heidelberger jener Zeit zuteil wurde und uns relativ gut über sein Leben informiert. Wie kam es zu diesem Text? Jakob Venedey (1805-1871) war einer der bedeutendsten deutschen demokratischen Politiker und Publizisten seines Jahrhunderts. Küchler könnte ihn schon 1832 beim Hambacher Fest kennen gelernt haben. Fast gleichzeitig gingen sie Ende 1832 bzw. Mitte 1833 ins Exil nach Paris. Dort wurde Küchler Mitglied im „Bund der Geächteten“, den Venedey leitete. Eine enge familiäre Verbundenheit entstand dann, als beide 1856 bis 1858 in Heidelberg wohnten und auch ihre Frauen Freundschaft schlossen.
Ein Platz für Menschen
(2011)
Im vergangenen Jahr (2010) fanden, in Kooperation zwischen der Arbeitsgruppe „Kunst Heidelberg“, der Architektenkammer und dem Stadtplanungsamt, verschiedene Veranstaltungen zum Thema „Kunst im Öffentlichen Raum“ statt, die fortgesetzt werden und über die theoretische Erörterung hinaus möglichst auch zu konkreten, sinnvollen und durchdachten Ergebnissen führen sollen - zweifellos eine begrüßenswerte Initiative. Manche Diskussionsbeiträge konnten freilich so verstanden werden, als hätte Heidelberg auf diesem Gebiet bislang nichts Bemerkenswertes vorzuweisen. Dass dem nicht so ist, zeigen im Bereich der Altstadt etwa Beiträge wie der - im Volksmund so benannte - „Spaghettibrunnen“ des Berliner Künstlerpaares Matschinsky-Denninghoff am Bismarckplatz oder der Sebastian-Münster-Brunnen von Michael Schoenholtz auf dem Karlsplatz. Beides Arbeiten, die durchaus Anspruch auf überregionale Beachtung erheben können, und dies gilt erst recht für die künstlerischen Beiträge im Neuklinikum und im Universitätscampus des Neuenheimer Feldes.
Im Nachlass Domenico Martinellis findet sich eine Skizze des Straßengrundrisses der Heidelberger Kernaltstadt, deren Autor aber nicht der berühmte italienische Architekt (1650-1719) selbst ist. Kurfürst Johann Wilhelm hatte ihm einen Auftrag zur Gestaltung des Wiederaufbaus der Stadt Heidelberg nach den Zerstörungen von 1689 und 1693 in Aussicht gestellt, aber dann doch nicht erteilt. Welchen Zustand Heidelbergs dieser Plan wiedergibt, wurde seit seiner Entdeckung unterschiedlich beurteilt. 1978 deutete Jörg Gamer den Plan als Darstellung eines künftigen, regulierten Straßennetzes; insbesondere an der „gestaffelten Führung“ der Straßenfronten von Haupt- und lngrimstraße meinte er neue Elemente der Stadtgestaltung ausmachen
zu können. Carmen und Thomas Flum haben 2009 in ihrem Katalogbeitrag zur Ausstellung „Heidelberg im Barock“ diese Deutung zurückgewiesen und mit einer Argumentation, die hauptsächlich auf der fehlenden Winkelgenauigkeit der Skizze fußt, begründet, dass die Skizze kein Entwurfsplan ist, sondern „den Zustand Heidelbergs um 1700“ darstellt.
Erich von Baeyer (1909-1990)
(2011)
Am Anfang war ein Bild: Das Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin (ZKJM), richtete 2010 ein Symposium mit einem Begleitbuch zu seinem 150. Geburtstag aus. Dafür war im Universitätsarchiv Heidelberg (UAH) ein Bild des damals 36-jährigen ersten Direktors Dr. Theodor von Dusch aus mehreren Fotografien ausgesucht worden. Beim Herausgehen aus den hinteren Räumen stießen wir auf die dort aufgehängte Karikatur Ernst Moros (1874-1951), des ersten Ordinarius für Kinderheilkunde in Heidelberg, signiert „v. B. 1932“. Welche Person und Geschichte sich hinter den Initialen verbergen, war im ZKJM, aber nicht im UAH bekannt.
"Die Juden werden abgeholt."
(2011)
Ende Oktober des Kriegsjahres 1940 waren Vorgänge in Baden und in der Pfalz selbst für höchste Repräsentanten des NS-Regimes in Berlin von außergewöhnlichem Interesse. Für den Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich, der später Hauptorganisator der „Endlösung der Judenfrage“, also der systematischen Ermordung der europäischen Juden wurde, war die Verschleppung von 6504 Juden aus dem deutschen Südwesten in die noch unbesetzte Zone Frankreichs ein erster Schritt zu diesem Ziel und Anlass für eine Erfolgsmeldung.
Aufgewachsen in einer aufstiegsorientierten Familie besucht er das altsprachliche Gymnasium einer mittelbadischen Stadt und legt eine hervorragende Abiturprüfung ab. Anschließend studiert er an der Universität Heidelberg Geschichte, Deutsch und Französisch; sein Studium schließt er sowohl mit dem Staatsexamen als auch mit der Promotion ab. Nach der Referendarzeit unterrichtet er als Studienassessor an verschiedenen Schulen und wird Studienrat an einem Mannheimer Gymnasium. In der Folgezeit engagiert er sich in einer bürgerlich-konservativen Partei, wird in seinem Wohnort zum Stadtrat und zum Landtagsabgeordneten gewählt. Seine vielfältigen Aktivitäten helfen ihm dabei, Schulleiter eines neu gegründeten Gymnasiums zu werden. Unermüdlich weist er auf die Raumnot seiner Schule hin, bis die Stadtverwaltung einen Neubau genehmigt. Den Einzug in das neue Gebäude und die folgenden Jahre erlebt er als würdige Krönung seiner Lebensleistung. So könnte ein Lebensweg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlaufen sein. Ganz anders sieht das Schicksal des Mannes aus, dem sich der folgende Aufsatz widmet. 1899 geboren, erlebte er die Kriege und politischen Systemwechsel, die die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts prägten. Wie wirkten sich Umbrüche und Katastrophen dieser Jahrzehnte auf die berufliche und private Existenz eines „Normalbürgers“ aus? Welche politischen und staatlichen Entscheidungen warfen ihn aus der gewohnten Bahn und stellten ihn vor völlig neue Herausforderungen? Wie reagierte er darauf, welche persönlichen Charaktermerkmale wurden sichtbar? Schließlich: Welche Folgen hatte dies für seine Familie? Diese Fragen - soweit es die Quellenlage erlaubt - aufzuklären und eine individuelle Lebensgeschichte im Kontext der allgemeinen und lokalen Entwicklung darzustellen, ist das Ziel der Studie. Wie bei jeder historischen Biographie wird das dabei gewonnene Bild bis zu einem gewissen Grad fragmentarisch, vielleicht auch widersprüchlich bleiben.